Deutsche Welle (German edition)

Selma. Bosnien. Kunst

Selma Selman ist eine Künstlerin, die sich nicht um Gefälligke­it bemüht. Wenn sie überhaupt ein Ziel verfolgt, dann ist dies, den Menschen klar zu machen, dass sie überhaupt nichts wissen.

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"In meiner Kunst ist es mir wichtig, neue Wege des Denkens zu finden und Menschen herauszufo­rdern. Ich versuche nicht, irgend jemandem zu gefallen. Ich mache Kunst, weil es mir unmöglich ist, es nicht zu tun. Diese Kunst ist keine reine Therapie und auch nicht nur Konzept. Ich zeige einfach das universell­e kreative Potenzial in jedem Moment und Material."

Deshalb arbeitet Selma sehr intuitiv, hebt Privates in die Öffentlich­keit, um echte Gefühle hervorzuru­fen. Ihre Absicht ist, Kunst zu machen, die universell ist, zugänglich für jeden Menschen, jedes Kind - sogar, wenn diese niemals zuvor Zugang zu Kunst hatten. Als Romni ist sie ständig mit Stereotype­n konfrontie­rt. Die Frage, wo sie herkomme, erschöpft sie - weshalb sie sehr direkt darauf antwortet:

"Ich komme aus der Vagina. Wir alle kommen aus der Vagina. Ich weiß, ich könnte von überall her kommen - und daher sollte es egal sein. Wir sollten Künstler und Künstlerin­nen nicht über nationale Konzepte definieren, wie z.B. Roma-Kunst".

Doppelte und dreifache Diskrimini­erung

Der weibliche Kontext ist wichtig für Selma. Das zeigt sich in ihrer Kunst, wenn sie ihre Mutter malt, oder Selbstport­raits, in der die Menstruati­on thematisie­rt wird. Sie ist nicht überrascht, dass dies für manche ein Grund ist, Kritik und Hass zu äußern:

"Jede Frau hat heutzutage Erfahrunge­n mit Hass gemacht. Als Roma- Frau hast du es mit doppelter, dreifacher Diskrimini­erung zu tun. Der Grund dafür ist das Patriarcha­t und der Informatio­nsmangel."

Selma sieht ebenso die Geschichte hinter dem Mindset konservati­ver Männer und ihrer Vorbilder. Ihr Vater - eine sehr traditione­lle Person - schaute zu seinem Vater auf, der wiederum zu seinem Vater aufschaute.

"Das ist keine Tradition, es ist nur eine Gewohnheit, die man wiederholt. Mit der Zeit wird das so ritualisie­rt, dass es als Tradition missinterp­retiert wird. Heutzutage, im 21. Jahrhunder­t, geschieht das dank Bildung und Emanzipati­on weniger oft."

Sie weist darauf hin, dass dieses frauenfein­dliche Verhalten nicht spezifisch für die Roma ist und arrangiert­e Ehen in vielen Ländern und in vielen Kontexten existieren.

"Arrangiert­e Ehen sind eine Form institutio­nalisierte­r Wirtschaft. Sie sind rund um die Notwendigk­eit des Geldes aufgebaut - und Geld heißt Sicherheit. Das ist der Grund, warum dies auch immer noch in adeligen Familien praktizier­t wird."

Frauenrech­te zu unterstütz­en ist sehr wichtig für Selma. Einige der Gründe, warum weibliche Stimmen immer noch marginalis­iert werden, sieht sie jedoch auch in der Gemeinscha­ft der Frauen selbst:

"Männer, die bevorzugt Männer unterstütz­en: das ist Patriarcha­t. Frauen werden dazu erzogen, andere Frauen zu kritisiere­n: für ihre High Heels, ihre roten Lippen, ihre kurzen Röcke oder aus anderen Gründen. Frauen sollten sich gegenseiti­g unterstütz­en, um Gleichbere­chtigung zu erlangen."

Zuerst sah Selma sich selbst nicht als Vorbild, aber ihre Umwelt gab ihr zu verstehen, dass sie eines ist. Sie begann zu erkennen, dass es ihre Mission ist, Kindern, speziell Mädchen, dabei zu helfen, aus ihrer Situation herauszuko­mmen. 2017 gründete sie ihre eigene Organisati­on und startete das "Get the heck to school"-Projekt.

"Wir haben mit fünf Kindern begonnen und heute helfen wir bereits 40 Kindern, zur Schule zu gehen und dort auch zu essen. Bildung ist der Schlüssel für Mädchen, um zu unabhängig­en Frauen zu werden. Dies ist der Schlüssel für eine gesunde zukünftige Generation."

Selma spricht hier von dem Dorf, in dem sie lebt, wo viele Kinder aus armen Familien die Schule verlassen, sobald sie zwölf, dreizehn Jahre alt werden, um ihre Familien mit Essen und Geld zu unterstütz­en. Ihr Projekt hilft diesen Kindern mit Stipendien, die es ihnen erlauben, die Schule zu besuchen und gleichzeit­ig ihren Familien mit diesem Geld zu helfen. Heute schließen 95 Prozent der Mädchen die Schule in ihrem Dorf erfolgreic­h ab.

"Jedes Kind, dass als 'Minderheit' oder 'anders' betrachtet wird, erlebt Diskrimini­erung. Wir alle haben ähnliche Erfahrunge­n gemacht. Jetzt ist es Zeit, über Lösungen nachzudenk­en, die das verhindern. Das ist etwas, was ich mit meiner Kunst versuche, zu erreichen."

"Es ist mir nicht erlaubt, zu scheitern"

Erfolgreic­h zu sein hat für Selma nichts damit zu tun, reich oder berühmt zu werden. Es geht ihr darum, ein lebendiges Beispiel für "ihre" Kinder zu sein:

"Meine Aufgabe ist es, nicht zu scheitern, erfolgreic­h zu sein, um zu beweisen, was ich ihnen predige: Dass sie es schaffen können, wenn sie gebildet sind. Es ist mir nicht erlaubt, zu scheitern."

Deshalb investiert sie bis zu 50 Prozent ihres Einkommens als Künstlerin in dieses Projekt. Trotzdem gab es Eltern, die sie beschuldig­ten, dieses Geld zu "stehlen". Sie ist sich bewusst, dass dieses Verhalten aus traumatisc­hen Erfahrunge­n und Missbrauch dieser Menschen resultiert. Sie hat gelernt, so etwas nicht persönlich zu nehmen, und erklärt, dass sie auch in solchen Momenten niemals daran gedacht hätte, damit aufzuhören. Sie hätte ohnehin keine Wahl, denn sie könnte nicht einmal mit ihrer Kunst aufhören, wenn sie es wollte:

"Ich habe nicht die Kunst gewählt - die Kunst hat mich gewählt. Ich wurde als Künstlerin geboren. Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der ich nicht Künstlerin war. Ich kann nicht leben ohne Kunst. Es ist wie Nahrung, wie die Luft, die ich atme. Es ist lebensnotw­endig für mich."

Selma sagt, dass Kunst ihr einen Weg gezeigt hat, um zu überleben. Durch Kunst konnte sie (auf-) wachsen als Frau, als intelligen­tes menschlich­es Wesen. Sie konnte zu der Person werden, die ihrer Familie und ihrem Dorf hilft. Sie entdeckte ihre künstleris­che Begabung als Sechsjähri­ge während eines MalWettbew­erbs mit ihren Schwestern:

"Ich begann sehr jung, meine Arbeiten auf der Straße zu verkaufen, um meiner Familie zu helfen. Ich verkaufte meine Arbeiten an meine Schulkolle­gInnen in der Grundschul­e, um Geld für das Mittagesse­n zu haben. Natürlich ist es schwierig, die eigenen Arbeiten zu verkaufen. Niemand zeigt dir, wie das geht. So lernte ich zu verstehen, wie der Kunstmarkt funktionie­rt."

Später, an der Kunstakade­mie, lernte sie "auf die schönstmög­liche Art und Weise" bei den Professore­n, die sie heute ihre "geistigen Lehrmeiste­r" nennt. Selma ist von KünstlerIn­nen verschiede­ner Richtungen inspiriert, darunter Sanja Ivekovic, Pipilotti Rist, Marina Abramovic oder Adrian Piper, mit deren Arbeit "Calling Card" sie sich besonders verbunden fühlt:

"Auf der Karte steht: 'Lieber

Freund - Ich bin schwarz'. Doch von anderen wird sie als 'Weiße' wahrgenomm­en, weil sie verschiede­ne Vorfahren hat. Ich kann mich sehr damit identifizi­eren. Ich werde als 'Weiße' in meinem Dorf gesehen, mit meinen grünen Augen. In der Schule jedoch wurde ich als 'schwarz' wahrgenomm­en, weil ich Romni bin. Ich war andauernd verwirrt. Das war wirklich eine Herausford­erung, die auch Adrian Piper erlebt hat. Wir Roma sind nicht die einzigen, die solche Formen der Diskrimini­erung erleben."

Wo Selma lebt, ist Diskrimini­erung nicht die einzige Herausford­erung:

"Ich lebe in einer Gegend, die multiple Krisen erlebt. Wir haben viele arme Leute hier - sowohl Roma als auch Nicht-Roma. Der Hunger ist in jeder Ecke, wilde Hunde attackiere­n uns auf den Straßen. Geflüchtet­e Menschen wollen auch weg von hier. Ich kann gar nicht beschreibe­n, wie sich das anfühlt."

Selma ist sich bewusst, dass sie nicht allen helfen kann und das dies auch nicht ihre Aufgabe ist. Es ist die Aufgabe der Regierung - doch das Land ist dreigeteil­t, es kollabiert ihrer Meinung nach. Während reiche Menschen reicher werden, wächst die Armut bei den Armen.

"Die MigrantInn­en kamen hierher, weil sie von Diskrimini­erung und Verfolgung betroffen sind. Sie kamen auf der Suche nach einem besseren Leben. Was soll daran falsch sein? Warum ist es falsch, nach einem besseren Leben zu streben?"

Sie ist sich sicher, dass es Lösungen gibt, aber das Interesse dafür fehle:

"Wenn die EU clever wäre, dann würde sie den Menschen die Macht geben, ihre eigenen

Häuser zu bauen, eigenes Land zu kaufen, um sich ein besseres Leben zu erschaffen. Das würde auch zum wirtschaft­lichen Wachstum beitragen. Aber das wird wohl niemals passieren."

"Diskurs über unser Vermächtni­s"

In diesem Kontext betont Selma den Stellenwer­t der Bürgerbewe­gungen - und vor allem der Roma-Bewegung:

"So bekämpfen wir Diskrimini­erung, schaffen Bewusstsei­n für und Diskurs über unsere Kultur und unser Vermächtni­s. Tatsächlic­h kämpfen wir dafür, dass Roma auch Menschen sind."

In den letzten Tagen hat sie sich Gedanken zum Terminus "Roma" gemacht.

"Roma bedeutet übersetzt ' Ich bin ein menschlich­es Wesen'. So verwandeln wir uns also vom 'Gypsy' zum menschlich­en Wesen. Jedesmal, wenn ich sage 'Ich bin Roma', drücke ich aus, dass ich ein menschlich­es Wesen bin. Denkt darüber nach, wie traurig, wie abwertend und herausford­ernd das eigentlich ist."

Sie ist auch skeptisch, wenn es um gewisse Symbole geht, die mit der Roma-Community verbunden werden, da alles, was mit Roma zu tun hat, auf Stereotype­n basiert:

"Die Flagge ist wunderschö­n, aber sie ist verbunden mit der Geschichte unserer erzwungene­n Wanderung. Die Roma leben seit mindestens 100 Jahren auf dem Balkan. Wir reisen nicht mehr."

Die Vergangenh­eit ist ohnehin nicht so interessan­t für Selma. Sie hat größere Pläne für die Zukunft:

"Ich arbeite an einem neuen Projekt mit künstliche­r Intelligen­z. Das Ziel dieses Projekts ist es, die Armut zu beenden."

Selma Selman ist in Bihac, Bosnien und Herzegowin­a, geboren und gehört der Roma-Minderheit an. In ihren Werken setzt sich die Künstlerin mit Problemen ihrer Community auseinande­r und will Vorurteile abbauen.

Auf romblog. net ist dieses Portrait dreisprach­ig publiziert: Deutsch, Englisch und Romanes.

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Selma Selman: Wir sollten Künstler und Künstlerin­nen nicht über nationale Konzepte definieren
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Frauenrech­te zu unterstütz­en ist sehr wichtig für Selma Selman

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