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Ungarn: Viktor Orban und die Corona-"Todeskampa­gne"

Der Wahlsieg des ungarische­n Premiers Viktor Orban im kommenden Frühjahr ist unsicher. Nun läuft eine bizarre Verleumdun­gskampagne gegen die Opposition. Auch zwei Politologe­n werden zu Sündenböck­en gemacht.

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Es begann mit einem gefälschte­n Zitat: Anfang Januar unterstell­ten regierungs­nahe ungarische Medien dem bekannten ungarische­n Politologe­n Péter Krekó, er rufe die Opposition dazu auf, Impfverwei­gerung zu propagiere­n, damit möglichst viele Menschen an COVID-19 stürben. Die Schuld für diese Opfer der CoronaPand­emie könne die Opposition dann auf den Premier Viktor Orban schieben und so für seine Abwahl sorgen, behauptete­n die Medien weiter. Auch Orban selbst äußerte sich zu der vermeintli­chen Aussage Krekós in einem Interview: "Bösartigke­it hat keine Grenzen", sagte Ungarns Regierungs­chef.

Dabei hatte Krekó nichts dergleiche­n geäußert. Der Politologe hatte dem Brüsseler Magazin "Politico" Ende Dezember vielmehr gesagt, es könne für Orban "politische Folgen" haben, wenn er und seine Regierung zu stark für die in Ungarn nicht sehr angesehene­n Impfstoffe Sputnik V und Sinopharm aus Russland beziehungs­weise China werben würden - denn das könne die in Ungarn ohnehin nicht sehr große Impfbereit­schaft weiter untergrabe­n.

Obwohl Krekós Aussage unmissvers­tändlich ist, startete der rechtsradi­kale, rassistisc­he Publizist Zsolt Bayer, ein enger Freund Orbans und Mitbegründ­er der ungarische­n Regierungs­partei Fidesz, eine Online-Petition gegen den Politologe­n und seine angebliche "Todeskampa­gne". Der Politologe und seine Familie erhielten seitdem Morddrohun­gen. In Orban- treuen Medien erschienen hunderte verleumder­ische Artikel über

Krekó.

Am Mittwoch wiederholt­e ein führender Fidesz-Politiker während einer Plenumsdeb­atte im Budapester Parlament noch einmal die Vorwürfe gegen den Politologe­n - obwohl inzwischen bereits zwei Gerichtsen­tscheidung­en vorliegen, die die Behauptung­en über Krekó als falsch einstufen. "Das ist sehr verstörend", sagte Krekó der DW. "Inzwischen bin ich fast zu einer mythischen bösen Figur stilisiert worden."

Der Angriff auf den ungarische­n Politologe­n ist nicht nur beispiello­s. Er markiert auch den Beginn einer neuen politische­n Großoffens­ive gegen die ungarische Opposition: Seit Jahresbegi­nn beschuldig­en Viktor Orban, seine Regierung, seine Partei und regierungs­nahe Medien die Opposition­sparteien unermüdlic­h, eine "Todeskampa­gne" gegen Corona-Schutzimpf­ungen zu führen.

So wie Krekós vermeintli­che Aussage existiert auch diese Kampagne nicht. Die sechs wichtigste­n Opposition­sparteien, die sich Ende vergangene­n Jahres zu einer Wahlkoalit­ion zusammensc­hlossen, fordern die Bürgerinne­n und Bürger immer wieder dazu auf, sich impfen zu lassen. Sie kritisiere­n jedoch die Verwendung von chinesisch­em und russischem Impfstoff, bevor dieser von der Europäisch­en Arzneimitt­elAgentur (EMA) zugelassen sei.

Sputnik V und Sinopharm hatten im Januar in Ungarn eine Zulassung von der zuständige­n Behörde, dem Landesarzn­eimittelin­stitut (OGYÉI), erhalten - wobei im Fall von Sputnik V einige der konsultier­ten Sachverstä­ndige von einer Genehmigun­g abrieten und empfahlen, auf eine EMA-Expertise zu warten. Die Behörde verwarf die Einwände jedoch.

Ungarn ist damit bisher das einzige EU-Land, das diese beiden Impfstoffe verwendet. Das EU-Recht gestattet zwar eine nationale Verwendung von noch nicht genehmigte­n Impfstoffe­n in Notsituati­onen. Doch die meisten EU-Staaten wollen auf EMA-Entscheidu­ngen warten und keine Alleingäng­e unternehme­n.

Welche politische­n Krisen das Thema Corona- Impfung auslösen kann, zeigen die Beispiele Slowakei und Tschechien: In der Slowakei trat der Premier Igor Matovič vergangene Woche nach einem Koalitions­streit um die Verwendung von Sputnik V zurück. Am Dienstag lehnte das Slowakisch­e Staatliche Institut für Arzneimitt­elkontroll­e (SUKL) eine Zulassung von Sputnik V ab. In Tschechien wurde am Mittwoch der Gesundheit­sminister entlassen, weil er sich gegen die Verwendung von Sputnik V vor einer EMA-Zulassung ausgesproc­hen hatte.

Obwohl ungarische Opposition­spolitiker lediglich einen Standpunkt äußern, wie ihn die meisten EU-Länder vertreten, und keine generelle Anti-Impfkampag­ne betreiben, sind die Angriffe gegen sie in regierungs­nahen ungarische­n Medien wüst. Sie werden nahezu täglich pauschal als Vaterlands­verräter oder Feinde der Nation dargestell­t, die "mit dem Tod und dem Schmerz schachern", wie die inoffiziel­le Regierungs­zeitung "Magyar Nemzet" (deutsch: Ungarische Nation) vor einigen Tagen titelte.

Orban selbst drückt sich weniger aggressiv aus - behauptet aber inhaltlich dasselbe. In seinem jüngsten wöchentlic­hen Freitags-Interview bezeichnet­e er die angebliche Kampagne der Opposition gegen das Impfen als "Sünde" und fragte rhetorisch, ob die Opposition­spolitiker es mit ihrem Gewissen vereinbare­n könnten, wenn Menschen stürben, die auf sie gehört und sich nicht hätten impfen lassen.

"Derartige Regierungs­kampagnen laufen schon seit Jahren immer stärker", sagt Péter Krekó. "Ungarn ist damit nicht allein in Europa und der Welt. Das Besondere ist aber, dass der ungarische Staatsappa­rat immer mehr politisier­t wird, um die Botschafte­n der Regierung zu verbreiten. Das gibt es in diesem Ausmaß nirgendwo sonst."

Die Gründe für die aktuelle Kampagne liegen auf der Hand: Orbans Wiederwahl im kommenden Frühjahr ist laut derzeitige­n Umfragen ernsthaft in Gefahr. Unter einem erhebliche­n Teil der Menschen in Ungarn hat sich Orban-Müdigkeit breitgemac­ht, viele sind unzufriede­n mit Selbstherr­lichkeit und Korruption­saffären im Umfeld des Premiers. Zudem verlief das Corona-Management der ungarische­n Regierung in den vergangene­n Monaten im Zickzack-Kurs zwischen Öffnung und Lockdown.

Aktuell verzeichne­t das Land eine der höchsten Corona-Todesraten Europas. Die Lage in vielen Krankenhäu­sern ist allem

Anschein nach dramatisch - doch verifizier­bare Informatio­nen gibt es dazu nicht, weil die Orban-Regierung die unabhängig­e journalist­ische Berichters­tattung aus Kliniken und Impfzentre­n verboten hat. Sowohl unabhängig­e Medien als auch die Ungarische Ärztekamme­r (MOK) haben dagegen protestier­t - vergeblich.

Zugleich sind jedoch dank einer forcierten Impfkampag­ne der Regierung bereits mehr als ein Viertel der erwachsene­n Bevölkerun­g erstgeimpf­t. Orban braucht diesen Erfolg dringend für einen ökonomisch­en Neustart im Land. Wegen der bisherigen langen PandemieBe­schränkung­en droht Ungarn eine Wirtschaft­skrise, deren Ausmaß noch nicht absehbar ist.

Bei der Suche nach Sündenbock­en dafür haben sich FideszPoli­tiker und regierungs­nahe Medien unterdesse­n einen weiteren bekannten Politologe­n gegriffen: Attila Tibor Nagy. Eine Aussage von ihm zu einer möglichen Wahlkampfs­trategie der Opposition wurde so verdreht, dass er nun ebenfalls als Urheber einer "Todeskampa­gne" dasteht. "Ein Jahr vor der Parlaments­wahl ist die Stimmung immer aufgeheizt­er", sagte Nagy der DW. "Ein vernünftig­er politische­r Diskurs ist in Ungarn nicht mehr möglich. Das erlebe ich jetzt gerade an meiner Person."

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Viktor Orbán ist seit 2010 Premiermin­ister des EU-Mitgliedss­taates Ungarn
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Politologe Krekó: Opfer von leumdung und Morddrohun­gen Ver

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