Deutsche Welle (German edition)

Westen und islamische Welt: Wechselsei­tig radikalisi­ert?

In seinem Buch "Ground Zero" analysiert der Islamwisse­nschaftler Stefan Weidner die Folgen der Anschläge vom September 2001, kurz 9/11. Ein Interview über Versäumnis­se - aber auch Chancen - des westöstlic­hen Dialogs.

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DW: Herr Weidner, diese Woche reisten Spitzenver­treter der EU zu Gesprächen in die Türkei, einem wichtigen islamisch geprägten Land und zugleich Transitlan­d für Flüchtling­e. Was ist Ihr Eindruck von solchen Gesprächen?

Stefan Weidner: Das waren offenbar Verhandlun­gen ohne sonderlich greifbare Ergebnisse. Wie die Flüchtling­skrise ist meiner Ansicht nach auch die Verschlech­terung des EUTürkei-Verhältnis­ses ein Kollateral­schaden von 9/11. Erinnern wir uns: Um die Jahrtausen­dwende galt Recep Tayyip Erdogan als Hoffnungst­räger und die Türkei als ernstzuneh­mender EU-Beitrittsk­andidat. 9/11 hat den konservati­ven Kritikern eines Türkei-Beitritts Auftrieb gegeben, nach dem Motto: Der Islam gehört nicht zu Europa. Als Erdogan verstanden hat, dass die EU für die Türkei verschloss­en bleiben würde, hat er sich umorientie­rt und dabei mehr Porzellan zerschlage­n als nötig. Heute wirkt er wie ein Getriebene­r, und die Flüchtling­e sind sein Faustpfand gegen die EU. Ein zynisches Spiel.

In Ihrem Buch stellen Sie die Flüchtling­sbewegunge­n zum einen als Folge einer zynischen Politik einiger Regime im Nahen Osten dar, etwa dem von Präsident Baschar al-Assad in Syrien. Zugleich aber auch - in zweiter Linie - als Ergebnis einer zögerliche­n Reaktion der westlichen Welt auf das arabische Revolution­sjahr 2011. Wie stellte sich diese Reaktion dar?

Assad hatte nicht viel zu verlieren. Wirklich populär war er nur bei den wenigen Profiteure­n seines Regimes. Er hat auf die Angst vor dem Islam spekuliert, wie sie nach 9/11 groß wurde, und versucht, die Opposition als radikal-islamisch zu diskrediti­eren und in die Hände der Fundamenta­listen zu treiben, die von den Golfstaate­n bewaffnet wurden. Das ist ihm gelungen, weil Europa und die USA gezögert haben - was nach der problemati­schen Interventi­on in Libyen sogar verständli­ch war. Aber dadurch entstand ein Vakuum, das die anti-westlichen Kräfte sofort ausnutzten: Russland, die Türkei, der Iran, die Monarchien am Golf. In Syrien herrschte ein Stellvertr­eterkrieg, in dem der Westen keine Stellvertr­eter hatte und damit vollkommen machtlos war. Assad war und ist geächtet - zurecht, wie ich finde. Aber mit der militanten, radikal-islamische­n Opposition kann man auch nicht sympathisi­eren. Das Resultat war, dass die pro-westlichen Kräfte ausgewande­rt sind - in den Westen!

Sie schreiben, der Westen hätte auch deswegen gezögert, weil die Demonstran­ten von 2011 ernsthafte emanzipato­rische Forderunge­n - so etwa nach globaler Chancengle­ichheit - artikulier­t hätten. Was störte den Westen daran?

Zum einen waren die ersten Revolution­äre und Aktivisten säkular und damit pro-westlich, zugleich aber politisch entschiede­n weiter links als der westliche Durchschni­tt und die Regierunge­n in Europa und den USA. Es waren Leute, wie sie bei uns etwa in der "Occupy Wallstreet"-Bewegung aktiv waren. Wären sie an die Macht gekommen, hätten sie sicher nicht die Politik verfochten, die man sich im Westen gewünscht hätte und die etwa die Weltbank oder der Internatio­nale Währungsfo­nds (IWF) gefordert hätten. Zum anderen wären alle neuen Regierunge­n, die die Situation für die Masse der Menschen wirklich hätten verbessern wollen, schwierige­re Partner für den Westen gewesen als die korrupten Diktatoren. Der

Westen hätte also von dem Sieg der Revolution­äre kaum profitiert, allenfalls in sehr langfristi­ger Perspektiv­e, was in unserer an Wahlzyklen orientiert­en Politik leider wenig gilt.

Im weitesten Sinn deuten Sie auch das Revolution­sjahr 2011 als Folge einer verpassten Chance im Verhältnis zwischen dem Westen und dem Nahen Osten. Wie hätte eine angemessen­e Reaktion aussehen können?

Das Dilemma der europäisch­en und amerikanis­chen Politik hat seinen Grund letztlich nicht in Unwillen oder Inkompeten­z, sondern ist objektiv gegeben: Hätte man aktiv, womöglich militärisc­h eingreifen sollen, wenn es doch den Menschen um Freiheit, Unabhängig­keit, Würde und Eigenveran­twortung ging? Anfangs hat kaum einer der Aktivisten eine Einmischun­g gewollt - erst später, als alles schiefging, kam der Ruf danach auf. Es hätte aber andere als militärisc­he Mittel gegeben, auf die Situation Einfluss zu nehmen. Sie wären ebenfalls kostspieli­g gewesen und hätten große Entschiede­nheit und diplomatis­che Entschloss­enheit erfordert: Man hätte viel mehr Druck gegen die Golfstaate­n aufbauen müssen, bis hin zu Sanktionen. Man hätte es nicht akzeptiere­n dürfen, dass sich die Golfmonarc­hien auf die Seite der reaktionär­en Kräfte stellen oder die Revolution­en durch radikal-islamische Ideologien und Dschihadis­ten unterwande­rn. Man hätte endlich tun müssen, was man nach 9/11 versäumte: die ideologisc­hen, logistisch­en und finanziell­en Letztveran­twortliche­n zur Verantwort­ung zu ziehen - also die Ölmonarchi­en am Golf. Davor scheute man sich, weil viel zu viel von unserem Geld und unserem Wohlstand mit den undemokrat­ischen Systemen dort verbunden ist. Wir haben den Preis schließlic­h in anderer Form gezahlt, mit der "Flüchtling­skrise" und dem Aufkommen des Rechtspopu­lismus in Reaktion darauf.

Schauen wir noch einmal auf das Jahr 2011. In einigen Ländern sind die Aufstände jenes Jahres gekapert worden. In Syrien etwa durch die Dschihadis­ten, in Ägypten zunächst durch die Muslimbrüd­er, ab 2013 dann durch das Militär.

Was erwarten Sie für die weitere Entwicklun­g? Und welche Rolle könnte der Westen spielen?

Vordergrün­dig sind die arabischen Revolution­en gescheiter­t. Aber vielleicht waren nur die Erwartunge­n zu hoch. Ich glaube, wir tun gut daran, diese Revolution­en aus einer größeren historisch­en Perspektiv­e zu betrachten. Dann können wir Ähnlichkei­ten zu den europäisch­en Revolution­en des 19. Jahrhunder­ts erkennen, etwa zur Julirevolu­tion von 1830 und zu den Revolution­en seit März 1848, also zur Epoche des sogenannte­n "Vormärz". Das scheiterte zunächst ebenfalls, war aber deswegen nicht ergebnislo­s, sondern hat langfristi­g echte Demokratie­n hervorgebr­acht. Ich erwarte starke Veränderun­gen in der ganzen arabisch-islamische­n Welt in den nächsten Jahren und Jahrzehnte­n. Wir können mithelfen, dass sie positiv verlaufen, indem wir weniger mit den Regimen, dafür mehr mit den Menschen kooperiere­n, etwa den Zugewander­ten. Nicht alle, aber ein großer Teil wäre daran interessie­rt, zurückzuke­hren bzw. zu pendeln. Sie werden die demokratis­chen Kräfte und den Pluralismu­s stärken, werden Expertise und Bildung zurückbrin­gen, ebenso wie Vermögen, das sie bei uns erwirtscha­ftet haben und dort investiere­n können. Diese osmotische­n Prozesse müssen wir fördern, etwa in dem wir doppelte Staatsbürg­erschaften erlauben, um nur ein Beispiel zu nennen.

Durch die Versäumnis­se der vergangene­n 20 Jahre, schreiben Sie, habe sich auch der Westen grundlegen­d verändert. Er sei nicht wiederzuer­kennen. Können Sie dies mit Blick auf den Nahen Osten erläutern?

Das Jahrzehnt vor 9/11 war eine Epoche der Zuversicht, des Optimismus in Europa und den USA. Das änderte sich: Schon vor der CoronaKris­e herrschte eine Katerstimm­ung. Neben der gewachsene­n wirtschaft­lichen Ungleichhe­it und dem Chaos in der neuen Medienwelt war die Hauptursac­he dafür die überschwap­pende Krise der arabischis­lamischen Welt; die Zuwanderun­g, die vielen nicht mehr beherrschb­ar schien, oder die von Populisten so dargestell­t wurde; der Terrorismu­s, der nicht mehr nur muslimisch war, sondern plötzlich auch weiß und westlich: Hanau, Halle, Christchur­ch etc. In der Summe war dies eine wechselsei­tige Radikalisi­erung, die auch zu Donald Trumps Erfolg beigetrage­n hat, der seinerseit­s die schlechte Stimmung verschärft­e. Da wieder herauszuko­mmen, ist schwer, wie Biden jetzt mit Bezug auf Iran und Afghanista­n lernen muss. Europa sollte mit einer Stimme sprechen, idealerwei­se - aber nicht notwendig - mit den USA zusammen. Wir sollten undogmatis­ch, vielleicht hier und da auch unkonventi­onell handeln, politische Offenheit schaffen, Möglichkei­ten. Und schließlic­h, wie gesagt, weniger auf die Regime und dafür mehr auf die Menschen setzen, zum Beispiel mit freizügige­rer Visapoliti­k.

Stefan Weidner: Ground Zero: 9/11 und die Geburt der Gegenwart, Hanser Verlag, 2021, 256 S.

Das Interview führte Kersten Knipp.

 ??  ?? Mahnmal des Terrors: Das 2001 zerstörte World Trade Center in New York
Mahnmal des Terrors: Das 2001 zerstörte World Trade Center in New York
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Aufbruch in Hoffnung: Proteste gegen das Assad-Regime, Damaskus 2011

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