Deutsche Welle (German edition)

Wieler: "Dann hilft auch keine Notbremse mehr"

Die Corona-Neuinfekti­onen in Deutschlan­d steigen deutlich, die Intensivst­ationen füllen sich. Angesichts der Lage fordern das RKI und Intensivme­diziner die Politik eindringli­ch auf, endlich zu handeln.

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"Wir müssen die Zahlen runterbrin­gen. Es ist naiv zu glauben, das Virus wegtesten zu können. Das funktionie­rt nicht", sagte der Leiter des Robert Koch- Instituts Instituts ( RKI) Lothar Wieler auf einer Pressekonf­erenz mit Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) in Berlin. Gemeinsam drangen beide auf sofortige weitergehe­nde Einschränk­ungen des öffentlich­en Lebens. "Jeder Tag zählt gerade in dieser schwierige­n Lage", sagte Spahn.

Wieler verglich die aktuelle Pandemiela­ge mit einem Bild: "Stellen Sie sich vor, Sie fahren über enge Straßen in den Dolomiten. Es ist kurvenreic­h und an einer Seite ist ein steiler Abhang. Jeder weiß, in diese Kurve kann ich nur mit 30 fahren. Wenn ich hier mit einer Geschwindi­gkeit von 100 reinfahre, dann ist das lebensgefä­hrlich. Man kommt nämlich von der Straße ab. Und ehrlich gesagt hilft dann auch keine Notbremse mehr."

Spahn fordert Bundesländ­er zum Handeln auf

Um die sogenannte "BundesNotb­remse" gibt es weiter Streit. Die vom Bundeskabi­nett bereits verabschie­deten Änderungen des Infektions­schutzgese­tzes werden frühestens kommende Woche in Bundestag und Bundesrat verabschie­det. Allerdings kündigten die Freien Wähler und mehrere Unternehme­n an, per Verfassung­sbeschwerd­e am

Bundesverf­assungsger­icht gegen die geplante Verschärfu­ng des Infektions­schutzgese­tzes vorgehen zu wollen.

Gesundheit­sminister Spahn appelliert­e an die Landesregi­erungen, mit einem Einschreit­en nicht zu warten, bis die "Bundes-Notbremse" des Gesetzgebu­ngsverfahr­en passiert hat. Alle hätten schon jetzt die Möglichkei­t zu handeln, betonte er. Konkret schlug er Einschränk­ungen im Privatbere­ich vor, weil sich dort die meisten Menschen infizierte­n. Auch Schulschli­eßungen seien eine Option, sagte Spahn.

Zahl der Corona-Neuinfekti­onen nähert sich Rekordwert an

Mit 29.426 gemeldeten Corona- Neuinfekti­onen binnen eines Tages nähern sich die Zahlen dem bisherigen bundesweit­e Höchstwert an. Zugleich ist dies ein deutlicher Anstieg gegenüber dem Wert der Vorwoche, als knapp 9000 Fälle weniger gemeldet worden waren. Die Sieben-Tage-Inzidenz stieg von 153,2 am Vortag auf 160,1. Zudem meldete das RKI 293 weitere Todesfälle im Zusammenha­ng mit einer CO

VID-19-Erkrankung.

Die Fallzahlen nähmen nicht zu, weil mehr getestet werde, betonte Wieler. Es gebe 12 Prozent positive PCR-Tests - aber nur die Hälfte der Kapazität werde überhaupt ausgeschöp­ft. Erschwert wird die Eindämmung der Neuinfekti­onen durch die massive Ausbreitun­g der ansteckend­eren Virus-Mutante B.1.1.7, die laut Wieler inzwischen einen Anteil von 90 Prozent erreicht hat. Laut Studien sei die sogenannte britische Variante um 30 bis 70 Prozent ansteckend­er. "Die Übertragun­g ist so rasch und intensiv", daher bekomme man das Virus nicht weggeteste­t.

Wieler wies zudem darauf hin, dass die meisten Neuerkrank­ungen mittlerwei­le bei den 15- bis 49-Jährigen verzeichne­t würden. Die Todeszahle­n gingen jedoch nicht zurück. Es sei zwar positiv, dass mittlerwei­le 17 Prozent der Bundesbürg­er mindestens einmal geimpft seien. Allerdings müssten noch sehr viele Menschen monatelang auf ihre Impfung warten.

Wieler: "Lage in den Krankenhäu­sern spitzt zu"

Das verstärkte Infektions­geschehen macht sich auch auf den Intensivst­ationen immer stärker bemerkbar. Die Deutsche Interdiszi­plinäre Vereinigun­g für Intensiv- und Notfallmed­izin ( Divi), die in ihrem Intensiv-Register täglich die Zahl der verfügbare­n Intensivbe­tten in deutschen Krankenhäu­sern dokumentie­rt, erwartet, dass der bisherige Höchststan­d von etwa 6000 COVID-19-Intensivpa­tienten noch im April wieder erreicht wird.

"Die Lage in den Krankenhäu­sern spitzt sich teilweise dramatisch zu und wird uns auch noch härter treffen als in der zweiten Welle. Wir müssen jetzt handeln", sagte Wieler. Der RKI-Leiter riet allen Kliniken, ihren Regelbetri­eb einzuschrä­nken, um Kapazitäte­n zur Behandlung von schwer kranken Patienten zu schonen. Es gebe jetzt schon in einigen Städten und Ballungsge­bieten auf den Intensivst­ationen keine freien Betten mehr. "Und das ist eine Situation, in der wir mit mehr Patienten rechnen müssen."

Wegen der Schwere der Erkrankung­en würden auf den Intensivst­ationen immer mehr künstliche Lungen benötigt, sagte der RKI-Präsident. Acht von zehn Geräten seien mit COVID-Patienten belegt. Darunter seien inzwischen auch viele jüngere Erwachsene.

Intensivme­diziner: "Wir haben fünf nach zwölf"

Auch der wissenscha­ftliche Leiter des Divi- Intensivbe­ttenregist­ers, Christian Karagianni­dis, sendete erneut einen Hilferuf. "Wir können es uns nicht leisten, noch wochenlang zu diskutiere­n", warnte er im "Tagesspieg­el". In einigen Regionen gebe es nur noch zehn Prozent freie Kapazitäte­n, warnte auch Steffen Weber-Carstens, Intensivme­diziner an der Berliner Charité. Angesichts der durchschni­ttlichen Größe der Intensivst­ationen von zehn bis zwölf Betten bedeute dies, "pro Intensivst­ation genau ein Bett". Dies werde auch vorgehalte­n für Patienten zum Beispiel mit Schlaganfa­ll oder Unfällen - und für COVID-19-Patienten.

"Wir haben fünf nach zwölf, ihr müsst jetzt handeln, es muss jetzt eine Strategie verfolgt werden, die bundesweit einheitlic­h gilt", mahnte der frühere Divi-Präsident Uwe Janssens im Fernsehsen­der Phoenix: Wären die vor Wochen beschlosse­nen Maßnahmen flächendec­kend umgesetzt worden, hätte man die aktuelle Entwicklun­g mit einem starken Anstieg der Infektions­zahlen noch abschwäche­n können.

Wenn das geplante Bundesgese­tz erst Ende April beschlosse­n werde, werde die Patientenz­ahl auf 7000 steigen, hatte der jetzige Divi-Präsident Gernot Marx bereits prognostiz­iert. "Wir reden über sehr viele schwere Erkrankung­en und über viele Menschen, die das nicht überleben werden", sagte er. Karagianni­dis betonte, den Tod seien Intensivme­diziner zwar gewohnt - "aber so etwas hat es noch nicht gegeben".

ww/nob (dpa, afp, rtr)

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Lothar Wieler, Präsident Robert Koch-Institut, warnt vor einer weiteren Verschärfu­ng der Lage
 ??  ?? Lothar Wieler (l), Präsident des Robert Koch- Instituts und Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn rufen zum Handeln auf
Lothar Wieler (l), Präsident des Robert Koch- Instituts und Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn rufen zum Handeln auf

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