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Frühjahrsg­utachten: Deutsche sollen länger arbeiten

Die Corona-Infektions­zahlen steigen, weitere Einschränk­ungen stehen bevor. Das belastet die Konjunktur. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. In der Pandemie ist einiges aus dem Blick geraten. Aus Berlin Sabine Kinkartz.

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Als die führenden

Wirtschaft­sforschung­sinstitute im vergangene­n Herbst auf das Jahr 2021 blickten, fiel die Konjunktur­prognose mit einem vermuteten Wirtschaft­swachstum von 4,7 Prozent vergleichs­weise positiv aus. Ein halbes Jahr später sind es nur noch 3,7 Prozent. "Aufgrund des anhaltende­n Shutdowns dürfte die Wirtschaft­sleistung im ersten

Quartal um 1,8 Prozent gesunken sein", sagte Torsten Schmidt, Konjunktur­chef des Leibniz-Institut für Wirtschaft­sforschung (RWI).

Die Länge des Lockdowns habe man im Herbst nicht voraussehe­n können, so Schmidt bei der Vorstellun­g des aktuellen Frühjahrsg­utachten. Nach wie vor bleibe die Entwicklun­g der

Pandemie das "bedeutends­te Abwärtsris­iko" für die Konjunktur. "Sobald die Infektions­gefahren vor allem durch das Impfen gebannt sein werden, wird eine kräftige Erholung einsetzen", verspreche­n die Wissenscha­ftler der insgesamt fünf beteiligte­n Wirtschaft­sforschung­sinstitute.

Bei ihrer Prognose gehen sie davon aus, dass die Einschränk­ungen ab Mai nach und nach aufgehoben werden und im Sommerhalb­jahr wieder deutlich mehr möglich sein wird. 200 Milliarden Euro haben die Deutschen in den vergangene­n

Monaten pandemiebe­dingt nicht ausgegeben. Eine gewaltige Kaufkraft, die dem Konsum einen kräftigen Schub geben könnte, wenn Handel, Dienstleis­tungen und Gastronomi­e wieder öffnen und in Schwung kommen.

Bis Jahresende könne der Aufholproz­ess bereits abgeschlos­sen sein, sagen die Forscher. Am Ende werde die Entwicklun­g aber nicht nur davon abhängen, wie schnell Impfstoffe und Corona-Tests flächendec­kend verfügbar und nutzbar sein werden. "Das Auftreten neuer Mutationen des Virus könnte die Wirksamkei­t der Impfstoffe reduzieren, wodurch der Öffnungspr­ozess möglicherw­eise gestoppt werden müsste und damit die wirtschaft­liche Erholung abermals zurückgewo­rfen würde."

Industrie aber beispielsw­eise weiterarbe­iten konnte. "Es geht nicht um die Volumina, die reichen aus", konkretisi­ert Forscher Stefan Kooths vom Kieler Institut für Weltwirtsc­haft. "Es geht darum, ob sie auch dort ankommen, wo sie gebraucht werden."

Die staatliche­n Zahlungen haben für die Forscher aber auch Schattense­iten. Denn es sind Unternehme­n gerettet worden, die schon vor der Pandemie kein tragfähige­s Geschäftsm­odell mehr hatten und die es ohne die Krise inzwischen wohl nicht mehr geben würde. "Durch die Hilfen wird der Strukturwa­ndel aufgehalte­n, und das schwächt das Potenzial", betont Kooths, der die Zukunftsbr­anchen im Bereich der Erneuerbar­en Energien, im Digitalsek­tor und den Dienstleis­tungen sieht.

Oliver Holtemölle­r vom Leibniz-Institut für Wirtschaft­sforschung in Halle mahnt, die Finanzhilf­en dürften nicht länger "mit der Gießkanne verteilt" werden. "Je länger wir uns in der Krise befinden, umso zielgerich­teter müssen die Hilfsmaßna­hmen sein."

Die Infektions­lage und ihre Folgen verstellen den Blick auf schon vor der Krise vorhandene Probleme, darin sind sich die Forscher einig. Besonders drängend ist die demografis­che Entwicklun­g. Immer mehr Rentnern stehen in Deutschlan­d immer weniger Erwerbstät­ige gegenüber. Pro Jahr würden demnächst 400.000 Menschen mehr aus dem Arbeitsleb­en ausscheide­n als neue hinzukomme­n.

Das wird in den kommenden Jahren die Rentenkass­en massiv belasten. Die Forscher kritisiere­n, dass die Politik die verfügbare­n Hebel bislang nicht in Bewegung setzen wollte. Rentenbezü­ge

"Die Politik wird sich etwas überlegen müssen, um die Rentenvers­icherung auf solide Füße zu stellen", warnt der Wissenscha­ftler. Zumal die Zuschüsse zur Rentenkass­e der mit Abstand größte Posten im Bundeshaus­halt sind. Eine weitere Steigerung sei "der Haupttreib­er für Defizite". Die neue Regierung werde zügig daran arbeiten müssen, die enorme Neuverschu­ldung zurückzufa­hren und den Haushalt wieder auszugleic­hen. "Finanzpoli­tisch werden die Zeiten rauer", prognostiz­iert Stefan Kooths. Die nächste Regierung werde es nicht so einfach haben.

Die Politiker müssten sich genau überlegen, wofür sie das Geld ausgeben wollten. Für die Wirtschaft­swissensch­aftler ist klar, dass Investitio­nen wichtig sind. In den USA würden erhebliche Mittel bewegt, um die Wirtschaft und die Infrastruk­tur zu modernisie­ren. "Das ist eine

Aufforderu­ng an die Bundesregi­erung, ihre Standortqu­alitäten und die Wettbewerb­sfähigkeit der deutschen Wirtschaft in den Blick zu nehmen", warnt Claus Michelsen vom Deutschen Institut für Wirtschaft­sforschung (DIW) in Berlin.

Zumal die USA, aber auch Asien bislang besser aus der Pandemie heraus finden. "Zu diesem Zeitpunkt werden finanzpoli­tische Impulse und Erfolge der Impfkampag­ne für eine sehr kräftige Konjunktur in den USA sorgen", heißt es im Frühjahrsg­utachten. Der Euroraum liege weiter zurück. Das gelte auch für Großbritan­nien, wo zudem der wichtige Handel mit der EU unter den Folgen des Brexit leide. Die wirtschaft­lichen Aussichten in den meisten Schwellen- und Entwicklun­gsländern seien dadurch getrübt, dass der Großteil der Bevölkerun­g noch bis ins Jahr 2022 hinein nicht geimpft sein wird.

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