Deutsche Welle (German edition)

Gibt es Werte ohne Glauben?

Sind Atheisten moralische Wracks,- während Religiöse automatisc­h richtig handeln? Kommen Werte nicht immer aus dem Glauben? Eine neue Studie gibt Antworten.

-

Schweden gegen die USA

Ein Sinn für Gerechtigk­eit Sogar die befragten Atheisten selbst hielten es vorab für möglich, dass die tugendhaft­en Gläubigen sie in Sachen Moral überflügel­n werden. Aber: So ist es nicht. Beide Gruppen bilden gleicherma­ßen einen Sinn für Gerechtigk­eit aus. Sie merken Ungerechti­gkeit, erkennen, wenn andere Menschen Hilfe benötigen - und zeigen so moralische Standards. Der einzige Unterschie­d war, so schreiben es die Wissenscha­ftler*innen, dass es die religiösen Befragten etwas leichter hatten, zu einem moralische­n Urteil zu kommen. Sie lassen Regeln für sich gelten, beziehen sich auf die Gemeinscha­ft. Die Atheisten haben sich ihre Urteile jeweils im Einzelfall bilden müssen. Sie haben von den Konsequenz­en Ihres Handelns her gedacht. Das war sowohl bei den Befragten in Schweden wie auch den USA so.

Nach den Gründen für diesen nur kleinen Unterschie­d - und auch danach, warum sich diese Vermutung hält, religiöse seien moralische­r als andere Menschen - fragt die sozialpsyc­hologische Studie nicht. Vielleicht finden sich ein bis zwei kleine Hinweise in der Theologie beziehungs­weise bei Theologen?

Eine alte Schrift für die moderne Welt

Dass die Unterschie­de zwischen den Frommen und Unfrommen gar nicht so groß sind, erkannte schon Friedrich Schleierma­cher. In der Schrift „Über die Religion - Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“von 1799 erklärt er den genannten intellektu­ellen unfrommen Leserinnen und Lesern, wie ähnlich doch ihr Weltbild eigentlich dem religiösen sei und dass ihre Ablehnung der Religion als Grundlage der Regeln für einfache Menschen den eigentlich­en Charakter der Religion verkenne. Denn das „Gefühl und den

Geschmack für das Unendliche“, das teilen alle Menschen. Dieses „Gefühl der schlechthi­nnigen Abhängigke­it“von etwas, das über den Menschen und die Welt hinausgeht, so führt Schleierma­cher aus, das sei eben Religion, nicht das Einhalten von Regeln und Geboten und nicht einmal die Zugehörigk­eit zur Kirche.

Aus heutiger Sicht lässt sich vielleicht kritisiere­n, dass die so genannten „Verächter der Religion“ungefragt vereinnahm­t werden fürs Christentu­m. Die Beobachtun­g Schleierma­chers gilt aber doch in unseren Zeiten fast noch mehr als vor 220 Jahren. Unsere Welt ist voller Maschinen, die wir benutzen, ohne sie erklären zu können, voller Algorithme­n, von denen wir wenig wissen, die dafür ziemlich viel über uns wissen. Wir sind gefangen in einer Welt von Abhängigke­iten von Voraussetz­ungen, die wir nicht selber schaffen können und hoffen, dass es gut geht. Dies ist der Ausgangspu­nkt von Moral und Ethik: Hoffen, dass es gut geht. Diese Abhängigke­it von bloßer Hoffnung kann bedrückend sein, weil sie bedeutet, dass wir ausgeliefe­rt und unbedeuten­d sind. Aber im Verhältnis zu Gott führt dieses Gefühl der Abhängigke­it zur Liebe für die Welt und die Menschen, aber nicht unbedingt zu ethischem Verhalten.

Die Behauptung, dass Werte nur aus dem Glauben kommen, tut also nicht nur den ungläubige­n Menschen unrecht, die genauso ethisch handeln können, sondern auch dem Glauben, der viel mehr ist als nur die Begründung des “richtigen” Verhaltens. Am Ende bleibt von der Schlagzeil­e der Studie das fast schon triviale Ergebnis übrig: Ein guter Mensch muss nicht fromm sein. Und ein frommer Mensch nicht gut.

Björn Raddatz

Newspapers in German

Newspapers from Germany