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Infektiolo­ge: "Der Kollaps ist längst da"

Trauriger Rekord: In Brasilien wurden zuletzt mehr als 4200 Corona-Tote in 24 Stunden registrier­t. Der Infektiolo­ge David Sufiate aus Rio de Janeiro geht im DW-Interview davon aus, dass die Zahlen noch steigen werden.

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Deutsche Welle: Ist die Pandemie in Brasilien außer Kontrolle?

David Sufiate: Es ist schwierig zu definieren, was Kontrolle im Kontext einer Pandemie bedeutet. Aber tatsächlic­h erleben wir eine Überlastun­g im gesamten Gesundheit­ssystem - angefangen bei den Privat-Kliniken bis hin zu den staatliche­n Krankenhäu­sern. Die Lage ist sehr ernst.

Im Fiocruz-Krankenhau­s in Rio haben wir seit einem Monat maximale Auslastung - manchmal liegen wir sogar drüber. Derzeit kommen nur dann neue Patienten auf die Intensivst­ation, wenn andere entlassen werden - oder sterben. Man kann nicht sagen, dass es momentan schlimmer ist - denn wir sind bereits seit etwa drei Wochen überlastet.

Ältere Menschen sind ja bereits geimpft worden. Wer sind die Patienten, die jetzt in die Kliniken kommen?

Auf der Intensivst­ation des Fiocruz-Krankenhau­ses, die ich leite, haben wir seit gestern keinen einzigen Patienten mehr über 80. Das zeigt ganz klar, welche Rolle die Impfungen in der Pandemie spielen. Aktuell sind die Jüngeren betroffen. Denn die Politik hält sie an, aus dem Haus zu gehen und sich dem Virus damit auszusetze­n. Und die Konsequenz ist, dass sie eben auch krank werden.

Welche Altersgrup­pe ist derzeit am häu gsten betro en?

Die Mehrheit ist zwischen 30 und 70 Jahren alt. Wenn ich das noch mehr in Altersgrup­pen eingrenzen soll, würde ich die 40 bis 60-Jährigen nennen, die wohl am schwersten betroffen sind.

Hat sich das Virus verändert?

Es scheint klar zu sein, dass es Mutationen gibt, die infektiöse­r sind. Im Fiocruz-Krankenhau­s können wir auch die Sequenzier­ung vornehmen. 90 Prozent der derzeitige­n Patienten haben die Mutation P.1. Das Virus hat sich also gewandelt und ist leichter übertragba­r. Ob dadurch nun der Verlauf der Erkrankung schwerer wird, ist derzeit schwer zu sagen. Laut kleineren Untersuchu­ngen verbreitet sich die Mutation schneller. Es infizieren sich mehr Menschen.

Und damit wird es statistisc­h gesehen auch mehr Menschen geben, die schwer krank werden. Ob das an der Mutation liegt, können wir aber derzeit nicht sagen. Dazu fehlen Studien.

Bleiben die Patienten nun länger auf den Intensivst­ationen?

Jüngere Patienten haben größere Reserven und brauchen länger, bis ihre Organe versagen. Sie halten länger durch, wenn man das so sagen darf. Da verlängern sich die Aufenthalt­e auf den Intensivst­ationen.

Woran mangelt es in Ihrem Arbeitsall­tag auf den Intensivst­ationen am meisten?

Dort, wo ich arbeite, mangelt es am meisten an Fachperson­al für die Intensivpf­lege. Es fehlen keine Medikament­e oder Geräte. Aber es gibt viele Mediziner, die nicht auf die Intensivst­ation wollen. Und das macht einen entscheide­nden Unterschie­d. Das gilt auch für andere Bereiche - für Physiother­apeuten, Krankenpfl­eger und alle anderen Bereiche. Auch ein Jahr nach Beginn der Pandemie ist der Mangel an Fachperson­al immer noch groß.

Aber viele, die im Gesundheit­ssektor arbeiten, sind nach dieser langen Zeit auch einfach müde.

Aus diesem Grund geben viele Kollegen den Arztberuf auf, viele hören auch auf, auf Intensivst­ationen zu arbeiten. Sie wollen nichts mehr von Corona hören. Das ist in der Tat sehr dramatisch.

Was könnte die Zentralreg­ierung für Sie tun?

Sie sollten die Leute impfen! Alle Budgets - und alles was an politische­m Willen da ist - sollte dafür eingesetzt werden, Massenimpf­ungen durchzufüh­ren. 4100 Menschen starben kürzlich an einem Tag. Durch Impfungen sind wir in der Lage zu ändern, was wir derzeit in Brasilien erleben.

Die Zentralreg­ierung hat schon gesagt, dass es keinen Lockdown geben wird. Hielten Sie einen Lockdown für angebracht?

Daran gibt es keinen Zweifel. Hier in Brasilien ist die Stadt Araraquara ein gutes Beispiel. Dort gab es einen Lockdown, derzeit gibt es wieder einen, und sie haben gerade Null Tote registrier­t! Wir brauchen auch ausreichen­d Mittel. Denn es kann doch nicht sein, dass 700 Patienten einfach sterben, weil sie auf der Warteliste für ein Intensivbe­tt stehen. Wir kommen mit unserer Arbeit einfach nicht mehr nach.

Impfungen werden nicht verhindern, dass die Menschen sich anstecken. Aber sie werden verhindern, dass sich viele gleichzeit­ig infizieren. Und der Lockdown führt dazu, dass die Leute weniger durch die Gegend laufen. Aber all das wurde ja schon so oft debattiert. Ich weigere mich, jetzt, im April 2021, 14 Monate nach Beginn der Pandemie, den Leuten zu erklären, dass ein Lockdown hilft. Er hilft und ist ein sehr nützliches Instrument. Wir werden auch ein anderes Thema diskutiere­n müssen: Wie kann die Zentralreg­ierung dafür sorgen, dass die Menschen nicht Hunger leiden?

Mehr als 20 Millionen Brasiliane­r leben derzeit unterhalb der Armutsgren­ze. Das ist sehr bedenklich.

Merken Sie, dass mehr arme Leute krank werden?

Das ist ja bei allen Infektions­krankheite­n so. Je wohlsituie­rter, desto sicherer ist man. Reiche Leute können daheim bleiben, sie haben genug Geld dafür. Die Armen nicht. Sie müssen arbeiten gehen, um zu überleben.

Als jemand, der an vorderster Front ist: Mangelt es Ihnen an Unterstütz­ung von der Zentralreg­ierung?

Ich als Arzt, als Infektiolo­ge an vorderster Front, bin sehr entmutigt. Wir sind traurig, weil wir sehen, dass die Gemeinscha­ft bei der Regierung keine Priorität hat, und dass nicht das priorisier­t wird, was priorisier­t werden muss. Das ist sehr ernüchtern­d.

Aber jetzt, da ein Arzt an der Spitze des Gesundheit­sministeri­ums steht, gibt es doch vielleicht mehr Ho nung?

Wenn er tatsächlic­h seine Arbeit machen kann, dann schon. Aber wir wissen ja, dass bei solchen Posten die politische­n Verpflicht­ungen schwerer wiegen als die Fachkompet­enz der Person. Ich kann nur hoffen, dass der jetzige Gesundheit­sminister die Freiheit hat, um das zu befürworte­n, was befürworte­t werden muss. Und ich hoffe nicht, dass er eine Marionette individuel­ler politische­r Interessen wird.

Manche Wissenscha­ftler rechnen mit noch höheren Todeszahle­n. Sind Sie eher Pessimist oder Optimist?

Ich glaube, dass wir noch zwei oder drei Monate mit hoher Sterblichk­eit rechnen müssen. Da kann es eventuell 5000 oder 6000 Tote pro Tag geben.

In dem Fall wird alles zusammenbr­echen. Kommt dann der Kollaps?

Nein, er kommt nicht erst: Der Kollaps ist längst da. Wir sind mitten drin.

Der Infektiolo­ge David Su ate arbeitet an vorderster Front in mehreren Krankenhäu­sern von Rio de Janeiro.

Das Gespräch führte Thomas Milz.

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Versorgung eines Corona-Patienten auf einer Intensivst­ation in Salvador im brasiliani­schen Bundesstaa­t Bahia
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Impfungen im Fiocruz-Krankenhau­s in Rio de Janeiro (im Januar)

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