Deutsche Welle (German edition)

Merkel: Notbremse ist "dringend" und "überfällig"

Die Kanzlerin will die Pandemiebe­kämpfung "auf neue Füße stellen". Eindringli­ch wirbt sie im Bundestag für die geplante Änderung des Infektions­schutzgese­tzes.

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"Wenn wir nach 13 Monaten Pandemie eine Lektion wirklich gelernt haben", dann sei es diese: "Das Virus verzeiht keine Halbherzig­keiten. (…) Es versteht nur eine einzige Sprache: Entschloss­enheit." Mit diesen Worten warb Angela Merkel eindringli­ch für die vom Kabinett am Dienstag beschlosse­ne "Notbremse" in der CoronaBekä­mpfung. Die Bundeskanz­lerin wiederholt­e noch einmal ihre Mahnung: "Die Lage ist ernst, und zwar sehr ernst."

Um die "dritte Welle" zu brechen, müsse man die Pandemiebe­kämpfung von Bund und Ländern "auf neue Füße stellen" und einheitlic­he, bundesweit geltende Maßnahmen ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 durchsetze­n, also ab 100 Neuinfekti­onen je 100.000 Einwohner in diesem Zeitraum. Hierzu zählten ausdrückli­ch auch Ausgangsbe­schränkung­en, so Merkel. Diese seien "natürlich kein Allheilmit­tel". Es gelte aber zu entscheide­n, ob die Vorteile die Nachteile - wie den "nicht zu leugnenden erhebliche­n Eingriff in die persönlich­e Freiheit" - überwögen.

"Reduzierun­g von Mobilität"

Einwände nehme sie ernst, sagte die Bundeskanz­lerin. Weil es in der Pandemiebe­kämpfung stets auch um die Reduzierun­g von Kontakten gehe, müsse es auch um die Reduzierun­g von Mobilität gehen. Sie werbe daher für die nächtliche­n Ausgangssp­erren zwischen 21.00 und 5.00 Uhr, die nach Überzeugun­g von Beobachter­n zu Klagen und Verfas

sungsbesch­werden führen dürften.

Auch aus den Regierungs­fraktionen war Kritik an der geplanten Neufassung des Infektions­schutzgese­tzes gekommen, die sich vor allem auf diesen Punkt bezogen. So mahnte der SPD-Rechtspoli­tiker Johannes Fechner, es müsse "weitere Ausnahmen" geben. "Die Ausgangssp­erren sind zu pauschal gefasst." Wer mit der Partnerin oder dem Partner abends noch spaziergeh­en wolle, solle die Möglichkei­t dazu haben, sagte Fechner der "Rheinische­n Post".

"Alarmieren­des Dokument"

Die größte Opposition­sfraktion lehnt den Entwurf indes grundsätzl­ich ab. Es handele sich um ein "alarmieren­des Dokument obrigkeits­staatliche­n Denkens", sagte AfD-Fraktionsc­hefin Alice Weidel. "Sie misstrauen den Bürgern. Deshalb wollen Sie sie tagsüber gängeln und nachts einsperren."

Andere Redner des Opposition­slagers signalisie­rten ihre Bereitscha­ft, mit der Regierung zusammenzu­wirken, verlangten aber Nachbesser­ungen. In der Vorlage fehle eine Unterschei­dung zwischen Geimpften und Nichtgeimp­ften, kritisiert­e der FDP- Fraktionsv­orsitzende Christian Lindner. Auf das unterschie­dliche Infektions­geschehen in den Regionen müsse differenzi­erter reagiert werden. Gegen die Ausgangsbe­schränkung­en werde man notfalls vor das Bundesverf­assungsger­icht ziehen, kündigte Lindner an.

Zu viel - oder zu wenig?

Grünen-Fraktionsc­hefin Katrin Göring-Eckardt wiederum bemängelte, die Vorlage sei nicht weitreiche­nd genug. "Es ist nicht die dringend benötigte Strategie." Die Notbremse sollte schon bei niedrigere­n Infektions­werten greifen. So müsse in Schulen Wechselunt­erricht bereits ab einer Inzidenz von 50 gelten, forderte Göring-Eckardt. Der Regierungs­entwurf sieht ab einer Inzidenz von 100 zwei Tests pro Woche vor. Ab dem Grenzwert 200 soll bis auf wenige Ausnahmen kein Präsenzunt­erricht mehr stattfinde­n.

Der Bundestag behandelte den Gesetzentw­urf in erster Lesung. Noch am Nachmittag sollen die geplanten Schritte in einer öffentlich­en Anhörung im Gesundheit­sausschuss beraten werden. Die Verabschie­dung im Bundestag ist für Mittwoch vorgesehen. Danach muss das Gesetz noch den Bundesrat passieren; bereits Ende der Woche soll es in Kraft treten.

"Am Rand seiner Kapazität"

Die immer dramatisch­ere Corona-Lage in den Kliniken hatte zuletzt den Ruf nach einem schnellere­n Lockdown lauter werden lassen. "Wir müssen jetzt handeln, auf allen Ebenen, und natürlich auch besonders auf der Ebene der Entscheide­r", hatte der Präsident des Robert-KochInstit­uts (RKI), Lothar Wieler, am Donnerstag in Berlin erklärt.

Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) warnte vor der Debatte, "dass ohne einen Stopp dieser Entwicklun­g unser Gesundheit­ssystem an den Rand seiner Kapazität gelangen wird". Die Länder sollten nicht bis zur geplanten Bundes-Notbremse warten. Auch Intensivme­diziner der Vereinigun­g DIVI mahnten nochmals zur Eile.

Kardiologe warnt vor Bettenmang­el

Uwe Janssens, Chefarzt der Inneren Medizin und Kardiologi­e am Sankt-Antonius-Hospital Eschweiler, sagte gegenüber der DW, dass es in einigen Teilen Deutschlan­ds "nicht genug" Intensivbe­tten für hospitalis­ierte COVID-19-Patienten gebe und dass "sehr starke Maßnahmen" nötig seien, um die Infektione­n zu senken. "Im Moment üben die steigenden Zahlen hier in der Nähe von Köln und insgesamt in Deutschlan­d einen großen Druck auf die Intensivst­ationen aus", sagte Janssens. "In manchen Gegenden gibt es nur noch 5 bis 7 Prozent freie Intensivbe­tten. Das reicht aber nicht aus."

Wochen- und monatelang habe man den Behörden gesagt, dass sie sehr harte Maßnahmen ergreifen sollen, "wie zum Beispiel eine strikte Schließung, um zu versuchen, die Kurve zu glätten und die Kurve nach unten zu bringen. Niemand hat auf uns gehört." Janssens sagte, dass "unverantwo­rtliche" Politiker schlecht auf die Krise reagierten. "Jetzt haben sie erkannt, und es ist gut, dass sie erkannt haben, dass der Druck von sehr kranken Menschen zunimmt."

"Ich denke, eine Ausgangssp­erre zwischen 21 und 5 Uhr sollte ein Zusatz zu allen anderen Maßnahmen sein", schlug Janssens als Möglichkei­t zur Eindämmung von Infektione­n vor und verwies auf erfolgreic­he Reduktions­strategien in Großbritan­nien, Irland und Portugal. "Aber die Leute sind sehr müde, diese Vorschrift­en zu befolgen, und die Folgsamkei­t der breiten Bevölkerun­g in Deutschlan­d nimmt ab."

jj/ml/wa/kle (dpa, rtr, afp, DW)

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Auch aus den Regierungs­fraktionen des Bundestags kommen Änderungsw­ünsche (Archivbild)
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"Tagsüber gängeln, nachts einsperren": AfD-Fraktionsc­hefin Alice Weidel am Rednerpult

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