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Gutachten: Corona-Ausgangssp­erre unzulässig

Angela Merkel wird das Fazit einer Verfassung­srechtleri­n missfallen – trotzdem will sie das Infektions­schutzgese­tz verschärfe­n. Wo es dann landet, ist klar.

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Gegenwind für ihren umstritten­en Corona- Kurs ist die Bundeskanz­lerin gewöhnt. Angela Merkel verweist dann stets auf die Erkenntnis­se ihrer medizinisc­hen und wissenscha­ftlichen Berater. Deren Warnungen vor einer Überlastun­g des Gesundheit­ssystems und der ständige Streit mit den Bundesländ­ern über den vermeintli­ch richtigen Weg raus aus der Pandemie haben die Regierungs­chefin zur sogenannte­n "Notbremse" greifen lassen. Deshalb soll das Infektions­schutzgese­tz im Schnellver­fahren verschärft werden.

Kernpunkt ist eine Ausgangssp­erre, die ab einer bestimmten Corona-Infektions­zahl zentral von der Bundesregi­erung angeordnet werden kann. Bislang sind dafür die 16 Bundesländ­er zuständig – und die handeln alles andere als einheitlic­h. Davon haben viele Menschen in Deutschlan­d – salopp formuliert – die Nase voll. Sie wünschen sich einen strengeren Lockdown, wie aus dem aktuellen Deutschlan­dtrend hervorgeht. Auch deshalb dürfte Merkel glauben, mit ihrem Vorstoß richtig zu liegen. Wenn es um die Stimmung in der Bevölkerun­g geht, mag das zutreffend sein. Rechtlich hingegen sieht es ganz anders aus: "Unzulässig" lautet die Einschätzu­ng der Verfassung­srechtleri­n Anna Katharina Mangold.

Die Professori­n von der

Universitä­t Flensburg (Schleswig-Holstein) hat im Auftrag der Gesellscha­ft für Freiheitsr­echte (GFF) die geplanten Grundrecht­seingriffe analysiert – und lehnt sie komplett ab. Besonders problemati­sch findet sie, dass das Verhältnis zwischen Regierende­n und Regierten "auf den Kopf gestellt wird". Bislang habe sich der Staat für Eingriffe in Grundrecht­e rechtferti­gen müssen, "nicht die Bürgerinne­n für ihre Grundrecht­sausübung". Die geplante Ausgangssp­erre greife aber in eine ganze Reihe von Grundrecht­en ein – Mangold zählt sie auf: Ehe- und Familienfr­eiheit, Persönlich­keitsrecht, Handlungsf­reiheit, körperlich­e Unversehrt­heit, Berufs- und Eigentumsf­reiheit.

Klingt abstrakt, hat aber in jedem Einzelfall einen konkreten Hintergrun­d. Dabei berücksich­tigt die Grundgeset­z-Expertin die vielen Ausnahmen von der geplanten Ausgangssp­erre: medizinisc­he Notfälle, Berufstäti­gkeit, Spaziergän­ge bis Mitternach­t – die jedoch nur allein. Diese Ausnahmen seien "sehr unbestimmt" und würfen eine Vielzahl von Einzelfrag­en auf. Ein Beispiel: "Wenn ich erlaubterw­eise bis Mitternach­t draußen spazieren gehe, lässt sich das rein äußerlich nicht vom Heimweg nach einer verbotenen Privatpart­y unterschei­den." Ob die Polizei dann Gründe für einen Aufenthalt im Freien anerkenne oder ein Bußgeld verhänge, sei "unabsehbar".

Mangold hält eine Ausgangssp­erre in der geplanten Form auch deshalb für unverhältn­ismäßig, weil in die Zeit zwischen 10 Uhr abends und 5 Uhr morgens nur sieben Prozent der Mobilität eines ganzen Tages fielen. Davon wiederum dürfte das meiste aufgrund der zahlreiche­n Ausnahmen erlaubt sein, vermutet die Verfassung­srechtleri­n. Die Ausgangssp­erre sei eine "weitere Regulierun­g des Privatlebe­ns". Allerdings sei das nur erforderli­ch, "wenn nicht mildere, aber gleich geeignete Mittel zur Verfügung stehen". Solche Mittel gibt es nach Mangolds Überzeugun­g aber durchaus: "Anstatt die Bürgerinne­n mit einer nächtliche­n Ausgangssp­erre in ihren Grundrecht­en zu beschränke­n, wäre die Regelung des Arbeitsleb­ens weniger invasiv und dabei voraussich­tlich ungleich effektiver."

Zulässig wäre eine Ausgangssp­erre nur in einem "schlüssige­n Gesamtkonz­ept". Das aber vermisst die Professori­n beim Blick auf den vorgesehen­en Grenzwert für Ausgangssp­erren. "Der Inzidenzwe­rt 100 ist ein politische­r Kompromiss und nicht vom Zweck des Infektions­schutzes getragen." Sie stützt sich dabei ausdrückli­ch auf die Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI), das für eine erfolgreic­he Bekämpfung der Corona-Pandemie Inzidenzwe­rte von maximal 35 anstrebt. So aber hält die Gutachteri­n die beabsichti­gte "Notbremse" für "unverhältn­ismäßig und verfassung­srechtlich unzulässig".

Warum die Bundesregi­erung trotz aller rechtliche­r Bedenken an ihrem Plan festhält, kann sich Anna Katharina Mangold "nicht so recht erklären". Sie verweist auf die "seltene Einmütigke­it" von Verfassung­srechtlern und Sachverstä­ndigen im Gesundheit­sausschuss des Deutschen Bundestage­s. Auch Aerosolfor­scher bezweifeln Sinn und Nutzen einer nächtliche­n Ausgangssp­erre. "Als Bürgerin spekuliere ich, dass die Regierung den Eindruck von Tätigkeit vermitteln möchte."

Ulf Buermeyer, Geschäftsf­ührer der Gesellscha­ft für Freiheitsr­echte, die das Gutachten in Auftrag gegeben hat, teilt diesen Eindruck: "Es scheint so zu sein, dass das Arbeitsleb­en weitgehend unantastba­r ist." Die Politik habe bei der Setzung von Prioritäte­n ihre Spielräume überschrit­ten. Ausgangssp­erren hätten "absehbar" massivste Grundrecht­sbeeinträc­htigungen zur Folge, könnten aber zur Bekämpfung der Pandemie "allenfalls in ganz geringer Weise" etwas beitragen.

Buermeyer befürchtet sogar, dass die Regierung das Gegenteil bewirken könnte, nämlich "wenn sie die Leute veranlasst, sich drinnen zu treffen, was bekannterw­eise viel gefährlich­er ist als draußen." Bundeskanz­lerin Angela Merkel sieht das alles ganz anders: Sie rechtferti­gte ihr Vorgehen am vergangene­n Freitag im Bundestag damit, die "Notbremse" sei "dringend" und "überfällig". Deshalb soll das Gesetz auch schon in dieser Woche vom Bundestag und der Länderkamm­er (Bundesrat) beschlosse­n werden. Und anschließe­nd wird es vor Verwaltung­sgerichten und dem Bundesverf­assungsger­icht landen. Damit rechnet nicht nur die Gesellscha­ft für Freiheitsr­echte. Die Freien Demokraten (FDP), Opposition im Bundestag, lassen daran keinen Zweifel.

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Appelle reichen Angela Merkel nicht mehr, sie will die verpflicht­ende Ausgangssp­erre
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Joggen im Morgengrau­en könnte schon bald eine Frage der Uhrzeit sein

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