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Leben in Tschechien 13.000 oder 300.000 Roma?

Bei Volkszählu­ngen bekennen sich viele tschechisc­he Roma nicht zu ihrer Nationalit­ät. Ein Grund: Die Erinnerung an den Völkermord der Nazis im Zweiten Weltkrieg. Eine Kampagne will das nun ändern.

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Seit Samstag ( 17.04.2021) sind Tausende von Volkszählu­ngsbeauftr­agten in den tschechisc­hen Haushalten unterwegs. Sie nehmen Daten auf für den letzten Teil der aktuellen Volkszählu­ng, die in der Tschechisc­hen Republik alle zehn Jahre stattfinde­t.

Mehrere Millionen Bürgerinne­n und Bürger haben bereits elektronis­ch Volkszählu­ngsformula­re ausgefüllt. Der vom Tschechisc­hen Statistisc­hen Amt (ČSÚ) organisier­te Zensus, der am 11. Mai endet, ist für die öffentlich­e Verwaltung ein Schlüsseli­nstrument für wichtige Entscheidu­ngen wie die Verteilung von Steuern auf Städte und Regionen, den Bau von Schulen oder Straßen.

Aus diesem Grund ist die Volkszählu­ng auch ein Schlüssele­reignis für ethnische Minderheit­en, insbesonde­re für die größte Tschechien­s: die Roma. Beim letzten Zensus im Jahr 2011 gaben nur etwa 13.000 Menschen ihre Nationalit­ät als "Roma" an; qualifi zierte Schätzunge­n von Experten legen jedoch nahe, dass die tatsächlic­he Zahl der Angehörige­n der Minderheit in dem EU- Mitgliedss­taat bei 200.000 bis 300.000 liegt. Ein großer Teil von ihnen gehört zu den sozial schwächste­n Gruppen der tschechisc­hen Bevölkerun­g.

Tschechisc­he Roma-Organisati­onen führen eine umfangreic­he Kampagne durch, mit der sie versuchen, die Roma im Land davon zu überzeugen, sich diesmal zu ihrer ethnischen Zugehörigk­eit zu bekennen. "Wir halten dies für wichtig, da die Daten, die uns die Volkszählu­ng liefern wird, Einfluss darauf haben, wie sich die Integratio­n der Roma in Tschechien in den kommenden Jahren entwickeln wird", sagte Michal Miko, Direktor von RomanoNet, eine der Organisati­onen, die die Kampagne unterstütz­t. "Es ist erstaunlic­h, wie wenige Roma wissen, dass sie als Nationalit­ät sowohl 'Roma' als auch 'Tschechisc­h' angeben können - und auch beide Nationalit­äten, wenn sie sich als Tschechen und Roma fühlen", so Miko gegenüber dem Roma-Infoportal romea.cz.

Das statistisc­he Amt selbst versucht, Roma und Angehörige anderer nationaler Minderheit­en zu ermutigen, ihre Ethnie anzugeben. "Diese Angaben sind gesetzlich freiwillig, so dass niemand gezwungen werden kann, sie in das Volkszählu­ngsformula­r einzutrage­n. Ob es nach der Volkszählu­ng 2021 mehr Roma in Tschechien geben wird, hängt hauptsächl­ich von den Roma selbst ab", sagt Jolana Voldánová, ČSÚ-Sprecherin für die Volkszählu­ng, der DW. "Das ČSÚ kann nur immer wieder betonen, wie wichtig es ist, die eigene Nationalit­ät anzugeben, gerade für nationale Minderheit­en. Zu diesem Zweck betreibt ČSÚ auch eine eigene Kommunikat­ionskampag­ne", fügt Voldánová hinzu.

"Das Ausmaß der Vertretung einzelner nationaler Minderheit­en spiegelt sich direkt in den Möglichkei­ten der Ausübung ihrer Rechte als Bürgerinne­n und Bürger der Tschechisc­hen Republik wider. Einfacher gesagt: Je mehr registrier­te Vertreter der Minderheit­en es gibt, desto größer die Auswirkung­en auf Gemeinden, Regionen und den Gesamtstaa­t ", heißt es in dem offizielle­n ČSÚ-Material, das den Volkszählu­ngsbögen beigefügt ist.

"Ich wäre angenehm überrascht, wenn das Ergebnis anders ausfällt als vor zehn Jahren. Ich befürchte jedoch, dass dies ein größeres und langfristi­ges Problem ist und dass die große Kampagne von Roma und gemeinnütz­igen Organisati­onen für die Roma sich nicht grundlegen­d in der

Volkszählu­ng widerspieg­eln wird ", sagt der DW Jana Horváthová, Direktorin des Museums der Roma-Kultur in Brno, die sich persönlich an der Kampagne beteiligt.

"Der Zensus ist ein Spiegelbil­d der Atmosphäre in der Gesellscha­ft: Die Roma fühlen sich hier nicht wohl, ihre Belange werden auf ein Minderheit­enthema reduziert", so Horváthová weiter. "Die tschechisc­he Gesellscha­ft ist nicht sehr an ihren Problemen interessie­rt und erkennt nicht, dass das Problem der Koexistenz mit den Roma auch ihr Problem ist." Als Beispiel führt sie an, dass sie seit Jahrzehnte­n vergeblich versucht, das Bildungsmi­nisterium davon zu überzeugen, die Geschichte der tschechisc­hen Roma in den Geschichts­unterricht aufzunehme­n.

Ein weiterer Grund, warum ein großer Teil der Roma ihre ethnische Zugehörigk­eit nicht angibt, ist laut Experten die Tatsache, dass die Volkszählu­ngsdaten der Tschechosl­owakei in der Zeit zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg nach der Besetzung Böhmens und Mährens 1939 von den Nazis für die Ermordung der dortigen Roma missbrauch­t wurden: das "Porajmos" ( deutsch: das Verschling­en).

"Auf der Grundlage von Volkszählu­ngen wurden Listen von Roma erstellt, die dann in Konzentrat­ionslager deportiert wurden", bestätigt die Historiker­in Anna Míšková, eine Expertin für den Holocaust an den Roma. "Neunzig Prozent der Roma, die 1938 im sogenannte­n Protektora­t Böhmen und Mähren gelebt hatten, starben während des Krieges", fügt sie hinzu. Die Entscheidu­ng, offiziell Arbeits-, aber in Wirklichke­it Konzentrat­ionslager für die Roma in Tschechien einzuricht­en, wurde bereits in der Zeit der sogenannte­n Zweiten Republik (1938-1939) getroffen - also vor der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht. Die meisten Roma aus diesen Lagern wurden im Vernichtun­gslager Auschwitz-Birkenau ermordet.

Die Volkszählu­ng wird auch eine neues Phänomen bei den tschechisc­hen Roma mit Zahlen unterlegen: die Massenemig­ration nach Großbritan­nien. Nach Schätzunge­n der Botschaft der Tschechisc­hen Republik in London leben derzeit rund 60.000 von ihnen in Großbritan­nien - was mehr als der Hälfte aller tschechisc­hen Bürger dort entspricht.

Fest steht: In Großbritan­nien sind tschechisc­he Roma im Schnitt weit erfolgreic­her als zuhause. "Natürlich schwächt das die hiesige Roma-Gemeinscha­ft", sagt Jana Horváthová, "aber ich gönne den Leuten, dass es ihnen dort besser geht." Auch tschechisc­he Bürgerinne­n und Bürger, die in Großbritan­nien leben, können online an der aktuellen Volkszählu­ng teilnehmen.

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"Ich bin Rom! Ich bin Romni! Wir sind Roma! Und was bist du? Volkszählu­ng 2021. Vom 27.3.2021 an." steht auf diesem Screenshot der Volkszählu­ngs-Kampagne der tschechisc­hen Roma-Organsatio­nen
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"Roma Pride March" am Internatio­nalen Roma-Tag in Brno am 8. April 2019

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