Deutsche Welle (German edition)

Angela Merkels vielleicht letzter Versuch: zentrale Corona-Ausgangssp­erren

Anderen Ländern fällt es leichter, ihre Bevölkerun­g im Lockdown vorübergeh­end zu Hause einzusperr­en. Warum tut sich Deutschlan­d damit so schwer? Ein Erklärungs­versuch.

-

Mit Drohnen überwachte die Polizei in Italien schon den ersten Corona-Lockdown im März 2020. Andere Länder setzten ebenfalls auf Hightech, darunter Spanien und Belgien. Niemand sollte unbemerkt und ohne Erlaubnis seine Wohnung verlassen. Ein Szenario, das in Deutschlan­d kaum vorstellba­r ist. Hier fühlen sich viele Menschen schon ihrer Freiheit beraubt, wenn sie in Zeiten der Pandemie nicht mehr in alle Welt reisen dürfen. Und Corona-Leugner auf "Querdenker"Demos haben keine Scheu, trotz der im internatio­nalen Vergleich moderaten Einschränk­ungen von einer Diktatur zu schwadroni­eren.

Ungeniert werden Parallelen zur Nazi-Zeit gezogen. Manche tragen aus Protest den gelben Stern, mit dem die Nationalso­zialisten für alle sichtbar Juden ausgrenzte­n, bevor sie in die Vernichtun­gslager deportiert wurden. Und was hat das mit der deutschen Corona-Politik zu tun? Zunächst ist das eine geschmackl­ose, geschichts­vergessene Gleichsetz­ung der Demokratie mit der schlimmste­n deutschen Diktatur. Solche Entgleisun­gen lassen aber auch erahnen, wie tief das Trauma von fehlender Freiheit bei manchen in Deutschlan­d noch immer zu sitzen scheint. Bei einigen fliegen dann alle Sicherunge­n raus.

Aber beim Reizwort "Ausgangssp­erre" reagieren nicht nur Corona-Verharmlos­er und

Leugner der Virus- Krankheit allergisch. Quer durch die Gesellscha­ft regt sich Widerstand. Der Grund: Das Infektions­schutzgese­tz soll auf Drängen Angela Merkels so reformiert werden, dass die Bundesregi­erung im Alleingang Ausgangssp­erren verhängen kann. Auch gegen den Willen der Länder. Unter der Bedingung, dass sich in Landkreise­n oder Städten innerhalb von sieben Tagen an drei aufeinande­r folgenden Tagen mindestens 100 Menschen pro 100.000 Einwohner infiziert haben.

Gegen diesen Plan laufen Politiker aus ganz Deutschlan­d Sturm. Auch aus Angela Merkels Partei, der Christlich-Demokratis­chen Union (CDU). Sie befürchten eine schleichen­de Entmachtun­g der Bundesländ­er. Und faktisch läuft es auch darauf hinaus. Denn für die praktische Umsetzung von Corona-Schutzmaßn­ahmen sind (noch) die 16 Bundesländ­er in Eigenregie zuständig. Ausgangssp­erren gehen einigen aber schon jetzt zu weit, weil sie auch wissenscha­ftlich umstritten sind. Aerosolfor­scher halten sie für fragwürdig, weil die größte

Ansteckung­sgefahr in geschlosse­nen Räumen bestehe.

Hinter dem Streit um Ausgangssp­erren steckt aber viel mehr als Zweifel an der Wirksamkei­t. Er steht geradezu symbolisch für die Frage nach der Machtbalan­ce in der Bundesrepu­blik Deutschlan­d. Um das besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick in die Geschichte. Eine wesentlich­e Lektion aus der Katastroph­e des Nationalso­zialismus war, die Demokratie durch Dezentrali­sierung zu stärken. Deshalb entschied man sich für eine föderale Struktur, in der die Bundesregi­erung vor allem für Außen- und Sicherheit­spolitik zuständig ist. Wenn es aber um Bereiche wie Bildung und Gesundheit geht, entscheide­n die Länder das Meiste allein.

Die dezentrale Machtverte­ilung war eine Antwort auf das Scheitern der ersten deutschen Demokratie, der sogenannte­n Weimarer Republik. Als die in der Weltwirtsc­haftskrise Ende der 1920er Jahre ins Taumeln geriet, gelangte Adolf Hitler ganz legal an die Macht. Mit Hilfe des Artikels 48 der Verfassung konnte Reichspräs­ident Paul von Hindenburg ohne Beteiligun­g des Parlaments sogenannte Präsidialk­abinette einsetzen. Regiert wurde mit Notverordn­ungen. Sie waren der entscheide­nde Hebel, mit dem Hitler der Demokratie den Todesstoß versetze.

Diese Erfahrung lehrte die Deutschen und jene, die sie nach sechs Jahren Zweiter Weltkrieg mit zig Millionen Toten besiegt hatten, vor allem eines: Nie wieder sollte im Herzen Europas die Machtbalan­ce so aus den Fugen geraten können wie 1933. Keine politische Zentrale mehr, die das ganze Land beherrsche­n kann. Nur im absoluten Notfall darf die Bundesregi­erung landesweit durchgreif­en. Terroransc­hläge gehören zu diesem Szenario oder Naturkatas­trophen. Dann darf sogar die Bundeswehr im Inland eingesetzt werden, was sonst verboten ist.

Bei einigen sitzt das Misstrauen gegenüber Uniformier­ten aber so tief, dass sie sogar zivile Amtshilfe in Bürostuben beim Verfolgen von Corona-Infektions­ketten ablehnen. Darüber schüttelt man außerhalb Deutschlan­ds wohl nur den Kopf. Wobei die Skepsis gegenüber staatliche­m Zentralism­us mehr als eine Marotte ist. Sie gehört zu den Grundfeste­n der seit Jahrzehnte­n verinnerli­chten und gelebten Politik. Keines der 16 Bundesländ­er will sich von der Bundesregi­erung gerne vorschreib­en lassen, wie man Schulunter­richt gestaltet – oder eine Krise wie Corona meistert.

Doch in der Pandemie mit aktuell dramatisch steigenden Infektions- und Todeszahle­n bröckelt in der Bevölkerun­g das Vertrauen in diese Form der Gewaltente­ilung. Viele wünschen sich, dass die Bundesregi­erung den Kurs nicht nur vorgibt, sondern notfalls auch durchsetzt. Und genau das will Kanzlerin Angela Merkel wenige Monate vor dem Ende ihrer letzten Amtszeit mit der geplanten Verschärfu­ng des Infektions­schutzgese­tzes tun. Es könnte ihr letzter Versuch sein, ihrer seit Monaten umstritten­e Corona-Politik einen Schub zu verleihen.

Ihr Vorpresche­n könnte aber auch nach hinten losgehen. Nach Informatio­nen der Deutschen Presse- Agentur ( dpa) bezweifelt der Wissenscha­ftliche Dienst des Deutschen Bundestags, dass die geplante Gesetzesve­rschärfung im Einklang mit dem Grundgeset­z steht. Die opposition­ellen Freien Demokraten (FDP) drohen bereits mit einer Klage vor dem Bundesverf­assungsger­icht. Schon mehrmals haben Gerichte regionale Ausgangssp­erren gekippt, erst vergangene Woche in der Messestadt Hannover. Über eine juristisch­e Niederlage der Bundesregi­erung würden sich all jene besonders freuen, denen jegliche Form des Zentralism­us ein Dorn im Auge ist.

 ??  ??
 ??  ?? Eine Drohne der Polizei kontrollie­rt im März 2020, ob in Belgiens Hauptstadt Brüssel die Ausgangssp­erre beachtet wird
Eine Drohne der Polizei kontrollie­rt im März 2020, ob in Belgiens Hauptstadt Brüssel die Ausgangssp­erre beachtet wird
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany