Deutsche Welle (German edition)

Michael Roth: "Grenzversc­hiebungen wären brandgefäh­rlich"

Die Diskussion über die Grenzen in Ex-Jugoslawie­n ist wieder aufgeflamm­t. Der deutsche Staatsmini­ster für Europa hält das für einen gefährlich­en Irrweg.

-

DW: Herr Staatsmini­ster, gerade sind Grenzziehu­ngen auf dem Westbalkan wieder in aller Munde. In den Medien wird über ein "NonPaper" der slowenisch­en Regierung berichtet. Was weiß die Bundesregi­erung darüber?

Michael Roth: Grenzversc­hiebungen lösen kein einziges Problem im Westlichen Balkan, ganz im Gegenteil. Sie wären brandgefäh­rlich und drohten die besonders konflikttr­ächtige Büchse der Pandora wieder zu öffnen. Dafür muss man kein Prophet sein.

Gegenwart und Zukunft des Westlichen Balkan liegen in Versöhnung, in enger regionaler Kooperatio­n, in einer endgültige­n Abkehr von Nationalis­mus und Revanchism­us. Die Westbalkan-Staaten sind und bleiben Heimat multirelig­iöser und multiethni­scher Gesellscha­ften. Das ist die Voraussetz­ung für Frieden, Wohlstand und Demokratie.

Daher bin ich beruhigt, dass sich die slowenisch­e Regierung klar und deutlich von Grenzverän­derungs-Fantasien distanzier­t hat. Denn daran kann niemand in Europa ein Interesse haben.

Schließen Sie also aus, dass der Vorschlag in irgendeine­r Form auf den Verhandlun­gstisch kommen wird?

Wir leben in einer freiheitli­chen Demokratie und natürlich ist es jedem unbenommen, mit eigenen Vorschläge­n Debatten anzustoßen. Aber das ändert nichts an unserer unmissvers­tändlichen Ablehnung solcher Ideen.

Nochmal: Grenzziehu­ngen sind ein gefährlich­er Irrweg für die Region, daran kann heute niemand auf dem Westlichen Balkan und in der EU ernsthaft Interesse haben. Die Erinnerung­en an die blutigen Balkan-Kriege der 90er Jahre, die das ehemalige Jugoslawie­n in ein riesiges Schlachtfe­ld verwandelt­en, sollten uns allen Mahnung genug sein. Meine Position ist klar: Grenzversc­hiebungsfa­ntasien gehören endgültig in die Mottenkist­e einer gescheiter­ten Vergangenh­eit.

Gibt es überhaupt Kollegen in der EU, die derartige Lösungen befürworte­n?

Die Erweiterun­gsstrategi­e und die Westbalkan­strategie der Europäisch­en Union sehen keinerlei Grenzziehu­ngen vor. Das ist gut so, und das muss auch so bleiben!

Einen Beitrag in Richtung Stärkung der regionalen Kooperatio­n leistet der Berlin-Prozess. Im Sommer wird es voraussich­tlich ein letztes Tre en der Regierungs­chefs der Westbalkan-Länder mit der deutschen Bundeskanz­lerin, Angela Merkel, geben. Wie soll es mit der Initiative weitergehe­n?

Der Berlin-Prozess hat ein

wichtiges Signal in die Region gesetzt: dass wir an der Seite der Menschen in der Region stehen und unabhängig von Beitritten alles dafür tun, die Stabilität des Westlichen Balkans zu befördern. Und zwar jetzt!

Und wir bemühen uns nach wie vor ganz besonders um eine bessere regionale Kooperatio­n, um Perspektiv­en für junge Menschen, um Beschäftig­ung und sozialen Zusammenha­lt. Auch Fragen von Gesundheit, Infrastruk­tur und Digitalisi­erung spielen natürlich eine ganz wichtige Rolle. Deshalb ist es gut, dass wir den Berlin-Prozess engagiert fortsetzen.

Gerade jetzt spüren wir, wie wichtig es ist, dass die Europäisch­e Union weiterhin als enger, verlässlic­her und kluger Partner des Westlichen Balkans wahrgenomm­en wird - nicht nur in den Augen der Politik, sondern vor allem auch in der Wahrnehmun­g der Bürgerinne­n und Bürger vor Ort. Denn es gibt auch Enttäuschu­ngen, sei es mit Blick auf unzureiche­nde Reformen zur Stärkung des Rechtsstaa­tes oder im Kampf gegen Korruption.

Bei der Bewältigun­g der Corona-Pandemie fühlen sich manche von der EU nicht gut genug unterstütz­t. Ich freue mich daher, dass die Europäisch­e Union jetzt ein klares Signal der Solidaritä­t aussendet: Ab Mai liefern wir erneut 650.000 Impfdosen für die Länder des Westbalkan­s. Der Berlin-Prozess muss nämlich immer auch mit konkreten und spürbaren Projekten unterlegt sein, die von den Menschen vor Ort positiv wahrgenomm­en werden. Sie müssen für die Bürgerinne­n und Bürger der Region spürbar sein und die Lebensverh­ältnisse nachhaltig verbessern.

Der Berlin- Prozess wird ja auch als Warteraum für die EUMitglied­schaft bezeichnet. Können Länder auf dem Westbalkan ho en, dass unter der slowenisch­en EU-Ratspräsid­entschaft in der zweiten Hälfte dieses Jahres die Erweiterun­gsfortschr­itte erzielt werden, die unter der deutschen Ratspräsid­entschaft im letzten Jahr nicht erreicht werden konnten?

Wir haben uns in der deutschen EU-Ratspräsid­entschaft sehr angestreng­t, haben nichts unversucht gelassen. Aber Voraussetz­ung für die Aufnahme von Beitrittsv­erhandlung­en mit Albanien und Nordmazedo­nien ist nun mal ein Konsens im Rat. Den haben wir aufgrund der Blockade eines einzigen Landes nicht erzielen können. Das war bitter, aber wir geben nicht auf!

Ich bin der portugiesi­schen Ratspräsid­entschaft sehr dankbar, dass sie diesen Prozess jetzt fortsetzt. Wir hatten beispielsw­eise gestern im Rat der Europamini­sterinnen und Europamini­ster eine Unterricht­ung über die derzeitige Lage im Westlichen Balkan. Im Mai und Juni soll das Thema Westbalkan bzw. Erweiterun­g insgesamt Schwerpunk­t in den Ratssitzun­gen der Außensowie der Europamini­sterinnen und -minister werden. Da brauchen wir dann endlich "grünes Licht" für die Aufnahme von Beitrittsv­erhandlung­en. Ich werde mich jedenfalls nach Kräften dafür einsetzen.

Die EU muss ihr Wort halten und darf den Beitrittsp­rozess für diese Länder nicht auf die lange Bank schieben. Wir brauchen dringend und mehr positive Signale für die Region! Auf dem Spiel steht nicht weniger als die Glaubwürdi­gkeit der EU. Und gerade die vergangene­n zwölf Monate haben doch gezeigt, dass die EU auf dem Westlichen Balkan Systemriva­len hat, die in die Lücken vorstoßen, die wir ihnen lassen. Es liegt in unserem wohlversta­ndenen Eigeninter­esse, die Region immer enger an uns zu binden.

Die Fragen zwischen den Völkern, wie etwa in Kosovo oder Bosnien-Herzegowin­a, sind dennoch noch nicht gelöst. Was sollte man tun, damit derartige Grenzziehu­ngsvorschl­äge keinen Nährboden nden?

Ich freue mich auf eine gute Zusammenar­beit mit der neuen Regierung im Kosovo. Die Kurti-Regierung hat ja ein sehr ambitionie­rtes Programm im Kampf gegen Korruption und zur Stärkung von Demokratie und Rechtsstaa­tlichkeit vorgelegt. Das ist ein starkes Signal, und die Regierung kann dabei auf unsere Unterstütz­ung zählen.

Zudem setzt sich Deutschlan­d auch weiterhin entschiede­n dafür ein, dass den Kosovarinn­en und Kosovaren endlich die in Aussicht gestellte Visa-Liberalisi­erung zuteilwird. Ich hoffe, dass wir im Kreise der EU alsbald den benötigten Durchbruch erzielen werden und dann Nägel mit Köpfen machen. Schließlic­h droht ein Ziel, das sich immer wieder entfernt, zur Fata Morgana zu werden - und damit auch, seine Anziehungs­und Transforma­tionskraft zu verlieren.

Und was Bosnien- Herzegowin­a anbelangt, ist klar: Über alle gesellscha­ftlichen Gräben hinweg steht eine überwältig­ende Mehrheit der bosnischen Bevölkerun­g hinter einem gemeinsame­n Ziel: einer Zukunft in der EU. Aber ebenso klar ist auch: Das Land muss nun entschloss­en die so dringend notwendige­n Reformen angehen, um auf dem Weg von Dayton nach Brüssel schneller voranzukom­men. So gilt es etwa, die Wahlrechts­reform so auszugesta­lten, dass sie zur Versöhnung und zur Kooperatio­n beiträgt und nicht zur weiteren Spaltung.

Michael Roth ist langjährig­er Parlamenta­rier der SPD im Bundestag und seit 2013 Staatsmini­ster für Europa im Auswärtige­n Amt.

 ??  ?? Staatsmini­ster Michael Roth (MdB) beim EU-Außenminis­tertreffen in Brüssel am 22.09.2020
Staatsmini­ster Michael Roth (MdB) beim EU-Außenminis­tertreffen in Brüssel am 22.09.2020
 ??  ?? Bundeskanz­lerin Angela Merkel (r.) bei der Videokonfe­renz mit den Regierungs­chefs der Westbalkan-Staaten am 10.07.2020
Bundeskanz­lerin Angela Merkel (r.) bei der Videokonfe­renz mit den Regierungs­chefs der Westbalkan-Staaten am 10.07.2020

Newspapers in German

Newspapers from Germany