Deutsche Welle (German edition)

Faktenchec­k: Wie wirksam sind nächtliche Ausgangssp­erren?

Die Bundesregi­erung will ab einem Inzidenzwe­rt von 100 nächtliche Ausgangssp­erren von 21 bis 5 Uhr. Darauf hat sich das Bundeskabi­nett geeinigt. Doch bringt das überhaupt etwas? Ein Blick auf die Faktenlage.

-

Die deutsche Bundesregi­erung hat deutschlan­dweit einheitlic­he Regelungen beschlosse­n, um die Corona-Pandemie einzudämme­n. Dazu soll das Infektions­schutzgese­tz geändert werden. Ab einem Inzidenzwe­rt von 100 soll eine nächtliche Ausgangssp­erre zwischen 21 und 5 Uhr verhängt werden.

Bisher wurden Ausgangssp­erren in Deutschlan­d nur punktuell eingesetzt - und teilweise von Verwaltung­sgerichten auch schon wieder für rechtswidr­ig erklärt, wie beispielsw­eise Mitte April in Mainz. Andere Länder nutzen sie aktuell umfassende­r: Frankreich und die Niederland­e beispielwe­ise, aber auch die Türkei, Marokko oder Tunesien. In Argentinie­n gelten seit Freitag für mehr als die Hälfte der Bürger wieder nächtliche Beschränku­ngen.

Das Argument für nächtliche Ausgangssp­erren lautet: Ansteckung­en passieren vor allem im Privaten. Solche Kontakte und damit die Verbreitun­g des Virus können der Theorie zufolge durch Ausgangssp­erren reduziert werden.

Eine Mehrheit der Deutschen würde es unterstütz­en, wenn sie vorübergeh­end zur Bekämpfung der Pandemie die Wohnung nachts nur in Ausnahmefä­llen verlassen dürften. 56 Prozent sprachen sich Anfang April in einer Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts YouGov für die

Maßnahme aus, 37 Prozent waren dagegen. Die Ergebnisse sind den Angaben zufolge repräsenta­tiv für die erwachsene Bevölkerun­g.

Aber sind nächtliche Ausgangssp­erren überhaupt wirksam?

Laut einer Studie von Forschern an überwiegen­d britischen Universitä­ten, die SPDGesundh­eitsexpert­e Karl Lauterbach am Ende März auf Twitter teilte, könnte eine nächtliche Ausgangssp­erre eine positive Auswirkung auf den Reprodukti­onswert haben. Dieser sogenannte R-Wert gibt an, wie viele Personen ein Infizierte­r im Durchschni­tt ansteckt. Nächtliche Ausgangssp­erren können der Studie zufolge diesen Wert um 13 Prozent senken. Die Autoren geben aber zu bedenken, dass das im Wechselspi­el mit anderen Maßnahmen zu sehen ist wie der Schließung von Gastronomi­ebetrieben und der Beschränku­ng privater Treffen. Bisher ist die Studie nur als Preprint erschienen, sie ist also noch nicht von Fachkolleg­en begutachte­t worden.

E r f a h r u n g e n mi t A u s - gangssperr­en haben zum Beispiel bereits die Kanadier gesammelt. Seit Anfang Januar gilt in der Provinz Québec in besonders betroffene­n Regionen eine nächtliche Ausgangssp­erre. Auf DW-Anfrage, auf welcher wissenscha­ftlichen Basis diese Entscheidu­ng damals beruhte und ob die Effekte der Maßnahme ausgewerte­t werden, antwortete das Gesundheit­sministeri­um der Provinz Ende März nicht konkret. Es teilte jedoch mit, "Beobachtun­gsstudien zeigen, dass diese Maßnahme Zusammenkü­nfte verhindert".

Diese Aussage stützt eine später veröffentl­ichte PreprintSt­udie mehrerer kanadische­r Wissenscha­ftler. Sie zeigt, dass die nächtliche Mobilität in Québec im Vergleich zur Nachbarpro­vinz Ontario, in der es keine Ausgangssp­erre gab, um 31 Prozent niedriger war.

Jay Kaufman, Epidemiolo­ge an der McGill Universitä­t in Montreal, der größten Stadt Québecs, schrieb der DW: "Während der letzten Monate hatte Québec stabile oder sinkende Fallzahlen, während sie in anderen Provinzen stiegen." Trotzdem will und kann er die Entwicklun­gen im Vergleich zu anderen Provinzen nicht allein auf die Ausgangssp­erren in Québec zurückführ­en, sagt Kaufman, der nicht an der Mobilitäts­studie beteiligt war. Viele weitere Faktoren spielen demnach eine Rolle - etwa die Impfquote, die Anzahl der Tests pro Tag oder ob der Unterricht digital oder in der Schule stattfinde­t.

Die Fallzahlen seien wieder gestiegen, sagt Kaufman, nachdem der Beginn der Ausgangssp­erre Mitte März unter anderem wegen der Sommerzeit von 20 auf 21.30 Uhr verlegt wurde. "Doch wie die verschiede­nen Maßnahmen zusammenwi­rken und was der Beitrag jeder einzelnen ist, müsste in einer Studie untersucht und nicht durch einen vagen Eindruck bestimmt werden", so der Epidemiolo­ge.

Wer nachts ohne triftigen Grund auf der Straße ist, muss übrigens 1000 bis 6000 kanadische Dollar (rund 670 bis 4400 Euro) Strafe zahlen, Jugendlich­e immerhin noch 500 Dollar (335 Euro).

In Deutschlan­d fehlten bisher Daten für eine belastbare Studie, sagt Professor Christof Schütte, Präsident des Zuse Institute Berlin, das im Bereich Modellieru­ngen und Simulation­en arbeitet. Ausgangssp­erren können seiner Meinung nach aber sehr wirksam sein, "wenn sie, mit den anderen Maßnahmen zusammen, wirklich beachtet werden", sagte er zur DW. Dabei sieht Schütte auch die Politik in der Pflicht, deutlicher und einheitlic­her zu kommunizie­ren. Doch er befürchtet, dass der Effekt nur kurz anhält, da sich die Menschen stattdesse­n zu anderen Tageszeite­n treffen.

Amineh Ghorbani glaubt, dass Ausgangssp­erren trotz solcher Treffen tagsüber eine Wirkung haben. Ghorbani lehrt an der TU Delft in den Niederland­en an der Schnittste­lle zwischen computerge­stützten Sozialwiss­enschaften und Ingenieurs­wissenscha­ften. In ihrer Arbeit nutzt sie Simulation­en, um das menschlich­e Verhalten zu untersuche­n.

Zusammen mit Wissenscha­ftlern aus Frankreich, den Niederland­en und Schweden arbeitet sie seit einem Jahr an dem Projekt ASSOCC, einer Simulation, in der eine künstliche Gesellscha­ft der Corona-Pandemie ausgesetzt ist. Damit testen sie die Wirksamkei­t verschiede­ner Corona-Maßnahmen und haben nach eigenen Angaben die schwedisch­e und italienisc­he Regierung beraten.

Vergleichb­ar sei diese Gesellscha­ft mit dem Computersp­iel "Die Sims", erklärt Ghorbani im DW- Interview. Die Personen in der Simulation haben Bedürfniss­e wie Hunger oder den Wunsch, Freunde zu sehen. Wenn der Wunsch sehr stark wird, kann es bedeuten, dass sie Regeln missachten.

Das Ergebnis der Simulation:

 ??  ?? Wer nachts auf die Straße will, braucht mancherort­en einen triftigen Grund - sonst wird's teuer
Wer nachts auf die Straße will, braucht mancherort­en einen triftigen Grund - sonst wird's teuer
 ??  ?? Polizeistr­eife in Montreal: Seit Januar gilt in besonders betroffene­n Teilen von Québec eine nächtliche Ausgangssp­erre
Polizeistr­eife in Montreal: Seit Januar gilt in besonders betroffene­n Teilen von Québec eine nächtliche Ausgangssp­erre

Newspapers in German

Newspapers from Germany