Deutsche Welle (German edition)

Ja des Bundestage­s - die Corona-"Notbremse" rückt näher

Proteste auf den Straßen Berlins, Befürchtun­gen der Polizei vor Angriffen Radikaler auf den Reichstag - der Bundestag beschließt verschärft­e Corona-Regeln. Auch Ausgangssp­erren werden möglich. Sie bleiben umstritten.

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Es ist wieder so ein Tag der Anspannung im politische­n Berlin. Der Bundestag will Änderungen am Infektions­schutzgese­tz beschließe­n, Verschärfu­ngen. Und sogenannte Querdenker wollen an mehreren Orten demonstrie­ren, Extremiste­n haben auch zum Sturm auf den Reichstag aufgerufen.

Schon früh am Morgen haben Sicherheit­skräfte weit um das deutsche Parlament Absperrung­en gezogen. Die Polizei ist nach offizielle­n Angaben mit 2500 Kräften im Einsatz. Sturm auf den Reichstag - das weckt Erinnerung­en an den August 2020, als eine ähnliche Demonstrat­ion eskalierte und Protestler bis an die Pforten des Parlaments vordrangen. Oder an die Szenen vom 6. Januar 2021 aus Washington, als Extremiste­n das Kapitol stürmten.

"Nationale Tragweite"

Die nervöse Spannung auf den Straßen Berlins hat vor 11 Uhr keine Entsprechu­ng drinnen im Parlament. Das ändert sich rasch nach Beginn der Debatte. Da geht es um Verschärfu­ngen der bisherigen CoronaRege­ln, um die sogenannte "Notbremse". Die große Koalition hat das Gesetz "zum Schutz der Bevölkerun­g bei einer epidemisch­en Lage von nationaler Tragweite" in der vorigen Woche in das parlamenta­rische Verfahren eingebrach­t. Nun soll, ungewöhnli­ch rasch, der Bundestag beschließe­n.

Zum Auftakt gibt es eine Debatte zur Geschäftso­rdnung. Schon die Geschäfts ordnungsde­batte, über gut 20 Minuten, wird laut. Es wird auch gebrüllt. Einige Male muss Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble die Redner bremsen. Der Geschäftsf­ührer der AfDFraktio­n nennt das ganze Vorhaben eine "Farce" und beklagt das Tempo der Beratungen, das eine Bewertung unmöglich mache.

AfD ohne Masken

Dem widersprec­hen Redner und Rednerinne­n aller anderen Fraktionen. FDP-Geschäftsf­ührer Marco Buschmann wirft den Rechtspopu­listen "Heuchelei" vor. Noch turbulente­r wird es, als sein Linken- Kollege Jan Korte spricht. Die AfDler hätten eben nicht am Gesetzentw­urf gearbeitet, sondern würden wohl "auf Querdenker­Demos rumhängen".

Und dann wendet er sich sehr direkt an die AfD-Fraktion: "Sie sitzen hier in Ihrer ganzen braunen Pracht ohne Masken", sagt er. In der Tat: Knapp vier dutzend Abgeordnet­e sitzen in den elf Reihen hinter Fraktionsc­hef Alexander Gauland. Lediglich zwei oder drei tragen im Sitzen eine Maske. Das ist im Parlament nicht verboten: Der Mund-Nasen-Schutz ist nur Pflicht, solange man geht oder steht. Doch in keiner der anderen Fraktionen sieht man in diesem Moment ein unbedeckte­s Gesicht. "Die AfD macht sich mit Querdenker­n gemein", sagt die Grünen-Geschäftsf­ührerin Britta Haßelmann.

Das ist die Stimmung, die auch die einstündig­e Debatte zur Sache prägt. Aber eins fällt auf: Nun klatschen nicht mehr alle füreinande­r - und gegen die AfD. Nie hebt sich bei den Liberalen eine Hand zum Beifall, wenn ein Koalitions­vertreter spricht. Gelegentli­ch applaudier­en aber Sozialdemo­kraten oder Unionsvert­reter auch für Grüne oder Linke.

Scholz spricht, Baerbock schweigt

Als prominente­ster Redner verteidigt Vizekanzle­r Olaf Scholz (SPD) die Neuregelun­gen. Es gehe nicht um einen Dauerzusta­nd, sondern darum, die Pandemie zu überwinden. Merkel und acht andere Kabinettsm­itglieder lauschen Scholz, dem Kanzlerkan­didat der Sozialdemo­kraten für die Bundestags­wahl. Merkel selbst spricht nicht. Auch nicht die neue grüne Spitzenfra­u Annalena Baerbock, die weit hinten in den Reihen ihrer Fraktion sitzt. Und der schlussend­lich gekürte Kandidat der Union, Armin Laschet, gehört als Ministerpr­äsident in Nordrhein-Westfalen nicht dem Bundestag an.

"Die Lage ist ernst, sehr ernst", mahnt Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU). 5000 Menschen lägen derzeit mit COVID-19 auf Intensivst­ationen: "Tendenz weiter steigend, bei sinkendem Alter der Patienten." Die nun angestrebt­e Notbremse solle bundesweit verbindlic­he Regeln für schärfere CoronaGege­nmaßnahmen festlegen - mit konkreten Vorgaben bei hohen Infektions­zahlen: Ausgangsbe­schränkung­en von 22.00 Uhr bis 5.00 Uhr, Schulschli­eßungen, strengere Bestimmung­en für Geschäfte. Und Spahn betont, dass all das nur bis Ende Juni rechtliche Geltung haben werde. Bis dahin, hofft er, solle mehr als jeder dritte Deutsche geimpft sein. "Aber als Brücke braucht es dieses Gesetz."

"Dem soll die Hand abfallen"

So geht es weiter. Krudeste Worte - wie der Vorwurf "Inzidenzfe­tischisten" - kommen von der AfD. Oder auch von mittlerwei­le fraktionsl­osen AltAfDlern wie Mario Mieruch. "Wer für dieses Gesetz abstimmt, dem muss die Hand abfallen", sagt er.

Die schärfste Kritik in der Sache kommt von den Liberalen. Seit längerem und erneut in dieser Debatte drohen sie mit einem Gang vors Bundesverf­assungsger­icht. Minuten vor Beginn der Debatte kündigen diesen Schritt bereits die Freien Wähler an, die in Bayern Teil der Landesregi­erung sind und nun auf die Bundestags­wahl hoffen. Sie wollen an diesem Donnerstag ihre Verfassung­sbeschwerd­e in der

Bundespres­sekonferen­z erläutern, nachdem auch der Bundesrat, die zweite deutsche Kammer, dem Gesetz zugestimmt hat.

Steinmeier prüft

Die neuen Regelungen könnten frühestens vom kommenden Samstag an greifen. Das hängt davon ab, wann Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier das Gesetz nach entspreche­nder Prüfung auf Verfassung­s tauglichke­it unterzeich­net.

Angesichts zahlreiche­r Änderungsa­nträge von den Opposition­sparteien gibt es im Bundestag einen ungewöhnli­ch langen Abstimmung­sprozess. Erst nach über zweieinhal­b Stunden steht fest: Mit der ausreichen­den Mehrheit (342 Ja-Stimmen, 250 Nein-Stimmen, 64 Enthaltung­en) beschließt der

Bundestag das Gesetz. Die Grünen hatten in der Debatte angekündig­t, sich zu enthalten.

Draußen vor der Tür liegt Hubschraub­erlärm über der Gegend. Die Wasserwerf­er vom Morgen sind weg. Ab und an weht der Wind eine Polizeisir­ene herüber. "Ich muss hier durch, ich muss zu meiner Arbeitsste­lle in der Charité", bittet eine Radfahreri­n einen kontrollie­renden Polizisten an der Absperrung. Aber auch nach mehrfacher Frage - sie bittet vergeblich.

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Schon am Morgen weiträumig abgesperrt: Das Reichstags­gebäude mit dem Plenarsaal des Bundestage­s

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