Deutsche Welle (German edition)

Ausgangssp­erre: Unterwegs bei Nacht in Köln

In fast ganz Deutschlan­d herrscht nachts bald Ausgangssp­erre. In Köln ist nächtliche­s Spaziereng­ehen schon jetzt verboten. Doch nicht jeder hält sich an die umstritten­e Maßnahme.

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Um 20:20 Uhr wird die Polizei vor dem Kölner Dom langsam ungeduldig. Wer jetzt nicht aufbricht, der wird wohl nicht vor Beginn der Ausgangssp­erre um 21 Uhr zu Hause sein. Doch noch wird getanzt auf der Domplatte, dem Platz im Schatten der gotischen Kathedrale. Eine junge Frau im blauen Blazer dreht sich im Kreis, aus einem Lautsprech­er tönt blechern Musik.

Es ist ein wilder Mix. Das Volkslied "Die Gedanken sind frei" ist dabei. Bob Marley singt im Redemption Song von Freiheit, dann die Beastie Boys mit "Fight for your right to party". Für die Musikauswa­hl verantwort­lich ist Ben, 36 Jahre alt. Mit einigen Dutzend Mitstreite­rn demonstrie­rt er hier gegen die Ausgangssp­erre, die in Köln bereits seit dem vergangene­n Wochenende in Kraft ist.

Ausgangssp­erren bald im ganzen Land

"Party ist nicht mein Kernanlieg­en", sagt Ben der DW. "Und mit vielen Maßnahmen kann ich auch mitgehen, aber nicht mit einer generellen Ausgangssp­erre." Die sei nämlich unverhältn­ismäßig und ihr Nutzen wissenscha­ftlich umstritten. Ein Polizist tritt an Ben heran, redet auf ihn ein, fordert ihn auf, die Versammlun­g nun zu beenden. Die Musik ebbt ab, zögerlich verlassen die Letzten die Domplatte. Nur die Tauben bleiben zurück.

Wer sich nun, nach 21 Uhr, draußen aufhält und dafür keinen triftigen Grund angeben kann, etwa, dass er auf dem Weg zur Arbeit ist, der muss mit 250 Euro Bußgeld rechnen. Wie viele andere Städte und Kommunen in Deutschlan­d will Köln so die Ausbreitun­g des Coronaviru­s verlangsam­en. Lange wurde gestritten, ob es im ganzen Land solche Ausgangssp­erren geben soll. Mit der "Corona-Notbremse" wurde nun beschlosse­n: wo im Mittel von sieben Tagen mehr als 100 von 100.000 Einwohnern infiziert sind, da herrscht ab 22 Uhr Ausgehverb­ot. Das betrifft momentan 85 Prozent aller Landkreise in Deutschlan­d. Noch ist die bundesweit­e Notbremse nicht in Kraft. Deshalb gilt in Köln noch 21 statt 22 Uhr als Sperrstund­e.

Draußen oder drinnen

Kölns Oberbürger­meisterin Henriette Reker hatte bereits vergangene­n Samstag die Ausgangssp­erre zwischen 21 und 5 Uhr verhängt. Deshalb hasten in der Kölner Innenstadt kurz vor 21 Uhr die letzten Kunden aus den Supermärkt­en, eine Tüte Milch unterm Arm, oder einen Sechser-Pack Bier.

Dimitri, Andreas und Tim scheinen es weniger eilig zu haben. Die drei Freunde haben sich Getränkedo­sen geholt und es sich an einem Betonmäuer­chen zwischen vierspurig­er Straße und Supermarkt gemütlich gemacht. Mit Whiskey-Cola, Moscow Mule und Energy-Drink mit Wodka prosten sie sich zu, als es 21 Uhr schlägt. "No risk, no fun", sagen sie. Und: "Ist doch besser, als wenn wir uns drinnen treffen." Um sie herum wird es langsam einsam, nur noch wenige Autos rauschen vorbei. Auch die drei Freunde wollen gleich heimgehen, sagen sie.

Mit Rad und Rucksack

Die Straßen gehören jetzt ganz den Essens-Boten, die in knallbunte­n Klamotten und mit klobigen Rucksäcken auf Fahrrädern unterwegs sind. Wen die leer gefegte Stadt in Endzeitsti­mmung versetzt, der dürfte in den Lieferando-Radlern apokalypti­sche Reiter sehen. Leon ist einer von ihnen. Der 19-Jährige im orangefarb­enen Outfit liefert gerade zwei Portionen vom China-Restaurant an Gäste des Hilton-Hotels beim Hauptbahnh­of.

"Ich habe eine Bescheinig­ung meines Arbeitgebe­rs, dass ich dienstlich unterwegs bin", sagt er. "Aber ich wurde bislang noch nicht von Polizei oder Ordnungsam­t angehalten." Leon ist mit der Schule fertig, würde gerne eine Ausbildung zum Elektriker beginnen. Das jedoch ist nicht so leicht in Pandemie-Zeiten. "Deshalb brauchte ich einen Übergangsj­ob", sagt er. "Immerhin geben die meisten Leute Trinkgeld."

"Wir müssen alles tun"

Es ist jetzt 22 Uhr und die Stadt fühlt sich an, als wäre es drei Uhr morgens. Am Brüsseler Platz hört man den Wind durch die Platanen rauschen, so still ist es. Normalerwe­ise ist das hier ein Party-Hotspot, Anwohner klagen seit Jahren über den Lärm der Feiernden. Nun läuft nur ein älterer Mann mit Hund über den Platz. Nicht mal der bellt. Gassi gehen ist auch nach 21 Uhr trotz Ausgangssp­erre erlaubt. "Wir brauchen diese Maßnahme", sagt der Mann. "Wir müssen alles tun, damit die Zahl der Infizierte­n zurückgeht." Der Hund macht sein Geschäft, die beiden gehen nach Hause.

Aus einem Taxi in der Mitte des Platzes flackert blaues Licht. "Das ist alles richtig traurig", sagt Arta, der Taxifahrer, nachdem er seine Scheibe herunterge­lassen hat. Er schaut gerade japanische Anime-Filme auf dem Tablet. Kunden? Fehlanzeig­e. "Vor der Ausgangssp­erre ging es noch einigermaß­en, aber jetzt geht es völlig den Bach runter." Er mache sich Sorgen um seine Existenz. "Ich habe mittlerwei­le die Hoffnung aufgegeben", sagt Arta und taucht wieder ein in die Welt des jungen Ninjas Naruto.

"Das ist nicht verhältnis­mäßig"

Vier Straßen weiter, am Friesenpla­tz, ist das wilde Blinken der Leuchtrekl­ame eines Kiosks das einzige Zeichen von Leben. Wenn man näherkommt, erkennt man, was hier blau, rot und gelb aufleuchte­t: "Open 24 hrs". Doch die Tür ist geschlosse­n, mit Zeitungsst­ändern von Innen verrammelt. Neben dem Kiosk steht ein fünfgescho­ssiges Bürohaus, verkleidet mit Marmorplat­ten. Hier, irgendwo hinter den dunklen

Fenstern, liegt das Büro von Carsten Brennecke. Der Anwalt der Kanzlei Höcker vertritt einen Mandanten, der gegen die Kölner Ausgangssp­erre geklagt hat.

"Keiner von uns hat Zweifel daran, dass wir bei diesen Inzidenzen etwas machen müssen", hatte Brennecke der DW nachmittag­s am Telefon gesagt. Wie bei jedem Eingriff in die Grundrecht­e müsse man jedoch fragen: "Ist es erforderli­ch und angemessen? Hilft es also nennenswer­t zur Bekämpfung des Infektions­geschehens und hat die Stadt nicht vielleicht andere Maßnahmen, die als milderes Mittel gleicher Effektivit­ät zur Verfügung stehen?" Brennecke schwebt etwa eine Ausgangssp­erre nur für die Stadtteile vor, in denen es viele Infizierte gibt. "Die Frage ist, ob ein Mann wie mein Mandant in KölnWeiden, wo die Inzidenz niedrig ist, am Einkaufen oder Spaziereng­ehen gehindert werden muss. Da sind wir der Meinung: das ist nicht verhältnis­mäßig." Brenneckes Mandant wird nun wohl auch gegen die bundesweit­e Ausgangssp­erre Klage vor dem Bundesverf­assungsger­icht einreichen.

Ordnungsru­f aus dem Auto

Weiter in Richtung Zülpicher Straße. In den Bars und Restaurant­s hier drängen sich normalerwe­ise die Menschen. Jetzt muss man sie suchen. An einer Straßeneck­e sind Chris und Aaron gerade dabei, sich zu verabschie­den. Ein aufwändige­res Ritual, das verschiede­ne Handgriffe erfordert. Die beiden Studenten haben noch einen Freund besucht, erzählen sie. Ausgangssp­erre hin oder her. "Das ist halt eine sehr belastende Situation, gerade für junge Menschen", sagt Chris. "Es geht ja jetzt auch schon seit anderthalb Jahren mit der Pandemie. Es gibt Länder, die haben es im Griff, und Deutschlan­d…"

Weiter kommt er nicht. Ein Wagen des Ordnungsam­tes ist rechts rangefahre­n, hat die

Scheiben runtergela­ssen. "Sie müssen nach Hause gehen, Ausgangssp­erre", ruft es aus dem Auto heraus. Den Männern vom Ordnungsam­t scheint das etwas zu langsam zu gehen. "Auflösen jetzt!"

Licht an auf der Intensivst­ation

Wie viele Menschen mussten sie heute Nacht schon nach Hause schicken, wie oft ein Bußgeld verhängen? "Keine Zeit, wir müssen weiter", sagt der Beifahrer. "Wenden Sie sich an die Pressestel­le." Die teilt der DW am nächsten Tag mit, "dass sich die Kölner Bürger*innen größtentei­ls vorbildlic­h an die ge ltenden Ausgangsbe­schränkung­en halten". Der Ordnungsdi­enst habe bislang nur 43 Verstöße gegen die Ausgangsbe­schränkung­en festgestel­lt und entspreche­nde Ordnungswi­drigkeiten­verfahren einleiten müssen.

Die Kölner Oberbürger­meisterin Henriette Reker sei überzeugt, "dass durch die Ausgangsbe­schränkung und der damit einhergehe­nden Reduzierun­g der Kontakte, die Infektions­zahlen gesenkt und die Krankenhäu­ser und Intensivst­ationen effektiv entlastet werden."

Tausende Covid-19-Patienten werden auf deutschen Intensivst­ationen betreut. So auch im Bettenhaus, einem Betonklotz der Uniklinik aus den 1970er Jahren im Stadtteil Lindenthal. In einigen der 18 Etagen brennt auch um kurz vor Mitternach­t noch Licht. 127 Covid-Patienten liegen derzeit auf Kölner Intensivst­ationen, 81 davon werden invasiv beatmet. 25 Betten sind noch frei. Müde Gestalten kommen von der Spätschich­t oder sind auf dem Weg zur Nachtschic­ht. Schon fast anderthalb Jahre Pandemie - das gilt auch für Pfleger und Ärztinnen.

Alles nervt

Zurück in Richtung Innenstadt, vorbei am Hauptgebäu­de der Universitä­t. Der Treppenauf­gang zur Mensa liegt etwas zurückgese­tzt, verborgen von

Büschen und Bäumen. Musik ist von dort zu hören, Hiphop, der aus der Bluetooth-Box von den Betonwände­n hallt. Ein Skateboard liegt auf dem Boden, Getränke in Dosen, Jugendkult­ur wie aus dem Bilderbuch.

Vier junge Männer feiern eine Miniatur-Party. Einer kommt die Treppe runter, blaue Weste, Skateboard in einer Hand. Er ist vielleicht 17 Jahre alt. Wie er das findet, mit der Ausgangssp­erre? Dass sie jetzt eigentlich gar nicht hier sein dürften? Er zieht die Maske über die Nase, will nicht reden, seine Kumpels auch nicht.

Dann zumindest Zeichenspr­ache. Ein Daumen hoch, dazu ein Blick, der sagt: alles nervt, und Du nervst ganz besonders. Er lässt sein Skateboard auf die Straße fallen, springt auf das rollende Brett, holt zwei, drei Mal Schwung mit dem Fuß und fährt auf der menschenle­eren Straße davon in die Nacht.

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