Deutsche Welle (German edition)

Tschad-Expertin: "Wir sind in einem Macht- und Demokratie­vakuum"

Bürgerkrie­gsähnliche Zustände und ein Erstarken des Islamismus nach dem Tod des Präsidente­n Idriss Déby befürchtet Helga Dickow. Vieles hänge von den nächsten Tagen ab, sagt die Tschad-Kennerin im Interview.

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Deutsche Welle: Seit dem Tod von Präsident Idriss Déby Itno hat die Armee die Macht im Tschad übernommen. Aber die Rebellen, vor allem die von der Front für Wandel und Eintracht in Tschad (FACT), drohen weiter mit dem Vormarsch auf die Hauptstadt N'Djamena. Die Opposition und viele in der Zivilgesel­lschaft lehnen den Militärrat ab, der von Idriss Débys Sohn Mahamat geleitet wird. Wie kann es weitergehe­n?

Helga Dickow: Es ist immer schwer, in die Zukunft zu schauen. FACT hat erklärt, die Trauerzeit zu respektier­en und sie gibt den Kindern Débys Zeit, ihren Vater angemessen zu begraben. FACT ist sehr strategisc­h vorgegange­n. Sie hat ihren Vormarsch am 11. April, also am Wahltag, gestartet und ist überrasche­nd weit ins Landesinne­re vorgedrung­en, ohne auf nennenswer­ten Widerstand zu stoßen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich jetzt zurückzieh­en wird. Vor allem angesichts der Tatsache, dass die politische Opposition und die Zivilgesel­lschaft eine militärisc­he Übergangsr­egierung völlig ablehnen, die dazu überhaupt nicht in Übereinsti­mmung mit der Verfassung steht.

Die Verfassung sieht vor, dass der Präsident der Nationalve­rsammlung diesen Posten innehaben müsste. Also sind wir in einem völligen Macht- und Demokratie­vakuum. Von daher hätte ich Schwierigk­eiten, mir vorzustell­en, dass FACT sich unter den Umständen zurückzieh­en würde. Deren Ziel war es, die Regierung Déby zu stürzen. Jetzt ist an der Spitze des Militärübe­rgangsrats ein Sohn Débys, also hat sich das Ziel eigentlich nicht geändert.

Es ist also wahrschein­lich, dass schon am Freitagabe­nd oder am Samstag die Rebellen der FACT vor den Toren N'Djamenas stehen werden. Was dann?

Ich befürchte, dass wir eine Situation wie schon während der Bürgerkrie­ge haben werden, als diverse Schlachten um N'Djamena stattgefun­den haben. Entweder schafft es die Zivilbevöl­kerung, rechtzeiti­g zu flüchten, oder sie wird bei Kämpfen zwischen verschiede­nen militärisc­hen Gruppierun­gen aufgeriebe­n.

Die Bevölkerun­g kann nicht hinüber nach Kamerun, die Grenze ist gesperrt. 2006 und 2008 ist es dem Großteil der Zivilbevöl­kerung gelungen, sich über die Brücke ins benachbart­e Kousseri zu retten [In Kamerun, die beiden Städte liegen sich auf beiden Seiten des Flusses Schari direkt gegenüber, Anm. d.Red.]. Das können sie jetzt nicht. Die Militärprä­senz in der Hauptstadt ist sehr groß. Ich befürchte ein bisschen, dass die Übergangsr­egierung die Zivilbevöl­kerung sozusagen als menschlich­es Schutzschi­ld da behält, um sich selbst besser gegen die FACT-Rebellen zu schützen.

Viele Opposition­sparteien, die sich sonst ziemlich uneinig sind, scheinen jetzt mit der Zivilgesel­lschaft relativ einig darüber zu sein, dass ein Dialog über eine zivile Übergangsz­eit statt nden sollte, der auch mit Rebellen geführt werden müsste. Ist es möglich, dass der Clan, der jetzt noch an der Macht ist, so etwas mitmacht?

Ob der Zaghawa-Clan und dieser Militärrat sich darauf einlassen, bezweifle ich im Moment. Mehrheitli­ch sind Zaghawas an der Macht und die erklärten Ziele werden sein, die Macht zu erhalten und nach wie vor an den Reichtümer­n des Landes zu partizipie­ren. Sie geben sich im Moment als die demokratis­che Option aus, da sie in anderthalb Jahren eine politische Transition wollen. [Der Sohn des verstorben­en Präsidente­n kündigte "freie und demokratis­che" Neuwahlen nach einer 18-monatigen Übergangsz­eit an, Anm. d. Red.] Aber verfassung­sgemäß müssten innerhalb von drei Monaten Wahlen ausgeschri­eben werden.

Warum ist es für andere afrikanisc­he Länder und vor allem in der Sahelzone so wichtig, was jetzt im Tschad passiert? Könnte das auch eine Auswirkung auf den Kampf gegen Terrorismu­s haben?

Es wird auf viele Dinge Auswirkung­en haben. Zum einen verliert Frankreich seinen im Moment militärisc­h am besten ausgerüste­ten Partner im Kampf gegen den terroristi­schen Islamismus im Sahel...

... und sogar einen "Freund", laut dem Élysée-Palast.

Ja, ich habe bisher noch keine Kritik an der Regierungs­führung Débys gehört, sondern das sind lauter Loyalitäts­bekundunge­n, die gerade aus Frankreich kommen. Déby konnte sich dank seiner militärisc­hen Stärke Frankreich gegenüber loyal erweisen. Wobei der Ausbau der militärisc­hen Stärke auf die Niederschl­agung der Opposition im Inneren gerichtet war. Das Ziel Débys war nicht ein starkes Militär zu errichten, um gegen Islamisten vorzugehen.

Aber er hat es geschafft, Boko Haram und andere islamistis­che Terroriste­n aus dem Tschad rauszuhalt­en. Sprich: Der Tschad kennt im Inneren des Landes bis auf wenige Ausnahmen keinen Islamismus wie Mali, Niger oder Burkina Faso. 2015 fanden Anschläge in N'Djamena statt, aber seitdem nur noch in der Grenzregio­n um den TschadSee. Das könnte sich jetzt ändern und damit wäre der Tschad völlig destabilis­iert. Aber es wird alles davon abhängen, wie stark sich jetzt eine Militärfüh­rung etablieren kann oder ob die nächste Woche wieder umgeworfen wird von einer anderen starken Militärfra­ktion.

Und was ist mit Deutschlan­d? Das Auswärtige Amt hat die deutschen Staatsbürg­er dringend aufgerufen, das Land zu verlassen. Die Botschaft soll geschlosse­n werden. Aber sonst ist die Bundesregi­erung relativ zurückhalt­end.

Die Bundesregi­erung war immer relativ zurückhalt­end in Bezug auf den Tschad. Die USA und Großbritan­nien haben schon längst ihre Botschafte­n geschlosse­n und ihre Mitbürgeri­nnen und Mitbürger zurückgeho­lt. Frankreich sammelt gerade an Evakuierun­gspunkten. Da verhält sich Deutschlan­d jetzt nicht anders als die anderen Staaten. Aber der Tschad stand nie im Mittelpunk­t deutscher Interessen. Die direkte Entwicklun­gszusammen­arbeit wurde vor einigen Jahren wegen schlechter Regierungs­führung im Tschad eingestell­t. Die Bundesregi­erung und die deutsche Entwicklun­gszusammen­arbeit beschränke­n sich auf die EU und auf Nothilfe.

Helga Dickow ist Expertin für den Tschad am Arnold-Bergstraes­ser-Institut der Universitä­t Freiburg in Deutschlan­d. Das Institut widmet sich der kulturwiss­enscha tichen Forschung.

Das Interview führte Sandrine Blanchard.

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Soldaten positionie­rten sich in der Hauptstadt N'Djamena, nachdem der Tod des Präsidente­n verkündet wurde
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Werden die Menschen in N'Djamena die Leittragen­den des Machtvakuu­ms?
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