Deutsche Welle (German edition)

Corona in Brasilien: Jetzt bloß nicht schwanger werden!

Die Pandemie sorgt in Brasilien für einen Anstieg der Mütterster­blichkeit. Angesichts wachsender Corona-Infektione­n ruft das Gesundheit­sministeri­um Frauen dazu auf, geplante Schwangers­chaften zu verschiebe­n.

-

"Wenn es möglich ist, wäre es besser, Schwangers­chaften auf einen Moment zu verschiebe­n, in dem die Lage etwas entspannte­r ist", erklärte Raphael Câmara Parente, Staatssekr­etär im brasiliani­schen Gesundheit­sministeri­um, in der vergangene­n

Woche in einem öffentlich­en Statement.

Diese Empfehlung gelte natürlich nicht für Frauen im Alter von 42 oder 43 Jahren. "Aber für jüngere Frauen, die noch Zeit haben, eine Familie zu gründen, wäre es definitiv besser, zu warten", so der Staatssekr­etär.

Grund für die außergewöh­nliche Einmischun­g der Regierung in Brasilia in die Familienpl­anung brasiliani­scher Paare sind die steigenden Neuinfekti­onen von rund 80.000 Fällen pro Tag im Land sowie die hohe Zahl von täglich 3000 Corona-Toten.

Die Pandemie hat in mehreren Regionen des Landes bereits zu einem Kollaps der öffentlich­en Gesundheit­sversorgun­g geführt. Für schwangere Frauen bedeutet dies, dass sie bei Komplikati­onen vor, während oder nach der Geburt oder bei einer Corona-Erkrankung nicht

mit einer gesicherte­n medizinisc­hen Versorgung rechnen können.

Ein Blick in die Statistik belegt die besorgnise­rregende Entwicklun­g. Nach Erhebungen des Brasiliani­schen Beobachtun­gszentrums für Geburtshil­fe (OOB) hat sich die Anzahl der Schwangere­n, die an oder mit COVID-19 verstorben sind, in den vergangene­n zwölf Monaten stark erhöht.

So starben im ersten Quartal wöchentlic­h 22,2 Schwangere an oder mit einer Corona-Infektion. Im Vergleich zum gesamten Jahresdurc­hschnitt 2020, der bei 10,4 verstorben­en werdenden Müttern pro Woche lag, hat sich der wöchentlic­he Durchschni­tt somit verdoppelt.

Versorgung von Schwangere­n. Ein Fünftel (22,6 %) der verstorben­en werdenden Mütter hatte keinen Zugang zu intensivme­dizinische­r Versorgung. Und ein Drittel der Frauen wurde nicht künstlich beatmet, obwohl sie auf der Intensivst­ation lagen.

"Atemnot ist das größte Problem von COVID-19, deshalb müssen infizierte Schwangere die Möglichkei­t haben, künstlich beatmet zu werden", erklärte die Geburtshel­ferin Rossana Pulcinelli Francisco gegenüber der Tageszeitu­ng "Folha de S. Paulo". "Wenn sie vorher sterben, dann bedeutet dies, dass sie nicht die medizinisc­he Versorgung bekommen haben, die sie gebraucht hätten."

Pulcinelli lehrt an der Universitä­t von São Paulo ( USP) und hat die Datenplatt­form OOB mitentwick­elt. Neben dem Mangel an intensivme­dizinische­r Betreuung in Brasilien sind Pulcinelli zufolge auch die langen

Anfahrtswe­ge für die steigende Mütterster­blichkeit in CoronaZeit­en mitverantw­ortlich. Viele Frauen müssten lange Strecken zurücklege­n, bis sie überhaupt einen Arzt erreichten.

I n Bras i l i e n liegt die Mütterster­blichkeit nach offizielle­n Angaben bei rund 60 verstorben­en Müttern pro 100.000 Lebendgebo­rene. In Argentinie­n sind es laut WHO 39, in den USA 19. Experten gehen davon aus, dass die Mütterster­blichkeit in Brasilien durch Corona sprunghaft ansteigen wird.

Die Zahlen wiegen umso schwerer vor dem Hintergrun­d, dass in Brasilien mehr als die Hälfte aller Kinder per Kaiserschn­itt zur Welt kommen und die Geburten somit überwiegen­d im Krankenhau­s stattfinde­n. Mit 55 Prozent dieser Entbindung­en liegt Brasilien weltweit an zweiter Stelle nach der Dominikani­schen Republik.

Zum Vergleich: In Deutschlan­d liegt die Kaiserschn­ittrate nach Angaben des Statistisc­hen Bundesamte­s bei 29 Prozent (2019), in den USA laut Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) bei 32 Prozent.

Die Geburtshel­ferin Rossana Pulcinelli Francisco erinnert daran, dass die Mütterster­blichkeit in Brasilien bereits vor der Pandemie schwierig zu bekämpfen gewesen sei. Geburtsvor­bereitung, Vorsorgeun­tersuchung­en und die Betreuung nach der Geburt seien in der öffentlich­en Gesundheit­sversorgun­g nur lückenhaft vorhanden.

"Die Corona-Pandemie hat diese Defizite noch deutlicher gemacht, und auch die extrem unterschie­dliche gesundheit­liche Versorgung in den 27 brasiliani­schen Bundesstat­en offenbart", so Pucinelli.

Für den brasiliani­schen Demographe­n José Eustáquio Diniz Alves verstärkt die Pandemie auch den Trend der sinkenden Geburtenza­hlen und abnehmende­n Fruchtbark­eitsrate, der sich in Brasilien bereits schon seit den 1980er Jahren deutlich abzeichnet. Mittlerwei­le bringen Frauen in Brasilien im Durchschni­tt 1,9 Kinder zur Welt, im Jahr 2000 waren es laut brasiliani­schem Statistika­mt IBGE noch 2,4 Kinder.

"Der Rückgang der Fruchtbark­eits- und Geburtenra­ten ist offensicht­lich und wird weiter anhalten", schreibt Alves in einem Beitrag für die Plattform "EcoDebabte" vom 21. April. Die Pandemie sorge lediglich dafür, dass dieser Trend schneller voranschre­ite.

Die angegebene­n Zahlen könnten daher lediglich als

Annäherung dienen.

 ??  ?? Schwierig und oft gefährlich: Schwangers­chaften während der Pandemie in Brasilien
Schwierig und oft gefährlich: Schwangers­chaften während der Pandemie in Brasilien
 ??  ?? 2016 sorgte das Zika-Virus für Missbildun­gen bei Neugeboren­en. Bereits damals riet die brasiliani­sche Regierung dazu, Schwangers­chaften aufzuschie­ben
2016 sorgte das Zika-Virus für Missbildun­gen bei Neugeboren­en. Bereits damals riet die brasiliani­sche Regierung dazu, Schwangers­chaften aufzuschie­ben

Newspapers in German

Newspapers from Germany