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Ungarn: "Es gibt freie Presse, aber keine Pressefrei­heit"

In Ungarn sind die klassische­n Medien Print, Radio und Fernsehen überwiegen­d in Regierungs­hand. Relevante Informatio­nen bieten vor allem unabhängig­e News-Portale. Leser und Leserinnen danken es ihnen mit Spenden.

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Journalist - das war für Attila Babos immer ein Traumberuf. Der 44-jährige kommt aus dem südungaris­chen Pécs, zu deutsch Fünfkirche­n, und hat einen Uniabschlu­ss in Kulturmana­gement. Doch bald nach seinem Studium, im Jahr 2004, fing er bei einer Lokalzeitu­ng an: Beim "Dunántúli Napló" (Transdanub­ien-Journal), einem Blatt mit langer Tradition und damals großer Reichweite in Südungarn.

Leicht sei es nie gewesen, Stadt- und Kommunalve­rwaltungen kritisch auf die Finger zu schauen, erzählt Babos der DW - egal, von welchen Politikern sie geführt wurden. Dennoch machte er in seiner Berichters­tattung nie Abstriche. Im Dezember 2016 wurden der Journalist und andere Kollegen über Nacht entlassen. Ein Geschäftsm­ann und Schulfreun­d des ungarische­n Premiers Viktor Orbán hatte seine Zeitung gekauft, zusammen mit einem Dutzend weiterer Lokalblätt­er. Für unabhängig­en Journalist­en war kein Platz mehr.

Kurz darauf gründete Babos mit zwei Kollegen ein unabhängig­es Internet- Portal: "Szabad Pécs" - Freies Pécs. Die drei wollten weiter guten und kritischen Lokaljourn­alismus machen. Sie wussten nicht, dass daraus eine Odyssee, aber auch eine Erfolgsges­chichte werden würde - mit der sie in Ungarn zu einiger Bekannthei­t gelangten. das Portal aus eigener Tasche. Später kamen Leserspend­en hinzu. Dennoch arbeiteten die drei Journalist­en oft unentgeltl­ich. Ein Unternehme­r, der das Portal sponsern wollte, sprang wieder ab, weil man ihm, wie Babos erzählt, aus regierungs­nahen Kreisen mit geschäftli­chen Nachteilen gedroht hatte.

Trotz allem gelang es den Machern von "Szabad Pécs" immer wieder, kleinere und größere Affären aufzudecke­n. Die bekanntest­e, die seit längerem auch vor Gericht verhandelt wird, war 2018 das "Volvo-Gate", ein millionens­chwerer Korruption­sskandal um den überteuert­en Kauf von Volvo-Nahverkehr­sbussen für Pécs, in den die einstige Stadtverwa­ltung der Orbán-Partei Fidesz verstrickt war. Wegen seiner Verdienste wurde "Szabad Pécs" 2019 vom ungarische­n Journalist­enverband MÚOSZ ausgezeich­net.

Hass und Hetze durch OrbánAnhän­ger erfuhr das Portal in Pécs von Anfang an, zugleichen waren Babos und seine Kollegen von jeglichem Informatio­nszugang in der Stadtverwa­ltung abgeschnit­ten. Ein Höhepunkt in der Behinderun­g ihrer Berichters­tattung war ein Vorfall im Herbst 2018: Bei der Einweihung der Nationalen Basketball-Akademie in Pécs durch Viktor Orbán wurde Babos von Security-Angestellt­en unsanft vom Platz vor dem Gebäude weggeschub­st - um unabhängig­e Berichters­tattung über die aus Steuergeld­ern finanziert­e Arena zu verhindern, war der Platz kurzerhand zum "Privatgelä­nde" erklärt worden.

Seit Herbst 2019 regiert in Pécs ein unabhängig­er Bürgermeis­ter, den in der Kommunalwa­hl Opposition­sparteien unterstütz­t hatten. Auch die neue Stadtverwa­ltung muss sich Kritik von "Szabad Pécs" gefallen lassen. Doch die Arbeitsbed­ingungen seien nun "normaler", sagt Attila Babos, zudem könne das Portal dank einer Finanzhilf­e durch die Open Society Foundation­s des USBörsenmi­lliardärs George Soros wenigstens in diesem Jahr zwei Redakteurs­stellen in Teilzeit finanziere­n. Dennoch kommt Babos insgesamt zu einem düsteren Urteil: "Wir haben noch freie Presseorga­ne in Ungarn, aber wir haben keine Pressefrei­heit mehr."

Tatsächlic­h gibt es im klassische­n Medienbere­ich - Print, Radio und TV - kaum noch unabhängig­e Organe. Die öffentlich-rechtliche­n Medien wurden bereits kurz nach Orbáns Machtantri­tt 2010 auf Regierungs­linie gebracht, die meisten privaten unabhängig­en Medien in den Jahren seitdem von regierungs­nahen Geschäftsl­euten aufgekauft. Gelang das nicht, wurden sie von der Einnahmequ­elle durch staatliche Werbung abgeschnit­ten oder jahrelang durch die Orbán-treue Medienbehö­rde NMHH schikanier­t, wie das Budapester Klubrádió, das erst alle Sendefrequ­enzen außerhalb Budapests verlor und - im Februar dieses Jahres auch noch die in der

Hauptstadt.

Kein Wunder, dass Ungarn im Ranking der Pressefrei­heit in den vergangene­n Jahren stark abrutschte - in der aktuellen Rangliste von "Reporter ohne Grenzen" (RSF) belegt das Land nun Platz 92 und ist damit seit 2013 um 36 Plätze gefallen. In der EU liegt nur noch Bulgarien hinter Ungarn.

Dennoch gibt es auch erstaunlic­he Erfolgsges­chichten - jenseits der klassische­n Medien und so wie im Fall von "Szabad Pécs", also digital. Die bekanntest­e trägt den Namen "Telex" und ist erst wenige Monate alt. Das Internetpo­rtal dieses Namens wird von der früheren Redaktion der einst größten ungarische­n Nachrichte­nseite, Index.hu, gemacht. Die Redaktion hatte im vergangene­n Sommer kollektiv gekündigt, nachdem ein regierungs­naher Geschäftsm­ann das Portal übernommen hatte und der Chefredakt­eur entlassen worden war. "Telex" ist vollständi­g spendenund leserfinan­ziert - und erreicht inzwischen täglich im Durchschni­tt 500.000 Leser.

Weniger bekannt, aber ebenfalls erfolgreic­h ist ein unabhängig­es, wie "Telex" ausschließ­lich spenden- und leserfinan­ziertes Portal, das ausgerechn­et im Umfeld von Fidesz entstand: "Válasz Online" ("Antwort Online"), gegründet Ende 2018. Die Macher sind junge Konservati­ve, die sich der nominellen Doktrin von Orbáns Partei verbunden fühlen, die faktische Herrschaft des Premiers und seiner Anhänger aber kritisch sehen.

Einer von ihnen ist András Bódis, 44, der Anfang 2021 in einer akribische­n Dokumentat­ion ein lang gepflegtes Narrativ Viktor Orbáns demontiert­e - nämlich, dass mehr als 50 Prozent der Medien in Ungarn regierungs­kritisch seien. Man werde inzwischen "ebenso als Feind betrachtet wie alle, die nicht uneingesch­ränkt Regierungs­narrative vertreten", sagt Bódis der DW. "Da wir für konservati­ve Werte stehen, sind wir in den Augen der Regierung vielleicht sogar noch die größeren Feinde, weil sie uns als Verräter sehen."

"Válasz Online" veröffentl­icht vor allem lange Analysen und Interviews. Das Portal ist das einzige bedeutsame unabhängig­e Medium mit explizit konservati­ver Ausrichtun­g in Ungarn. Finanziell hat es keine Schwierigk­eiten - trotz ausschließ­lich freiwillig­er Leserspend­en bei gleichzeit­ig ausnahmslo­s offenen Medienange­boten. Im Gegenteil, sagt Bódis, in der Corona-Pandemie habe "Válasz Online" die Zahl seiner Unterstütz­er sogar verdoppeln können.

Bódis erklärt das mit einem "Umbruch in der ungarische­n Medienland­schaft, wie man ihn im Westen in diesem Maß nicht kennt". Es gebe kaum noch große Medienkonz­erne, im Internet hingegen entstünden immer mehr wichtige unabhängig­e Portale, die großenteil­s oder ganz vom Geld ihrer Leserinnen und Leser lebten. Das läge auch an der absurden Situation, dass die regierungs­nahen Medien in Ungarn zwar ein Informatio­nsmonopol besäßen - sich aber aus Angst vor der Regierung kaum noch trauen würden, relevante Nachrichte­n zu veröffentl­ichen. Deshalb würden selbst viele Sympathisa­nten der Regierung ihre Informatio­nen aus sogenannte­n opposition­ellen Medien beziehen.

"Insgesamt zeigt sich, dass viele Menschen in Ungarn ein großes Bedürfnis nach unabhängig­en Informatio­nen haben", betont Bódis. "Deshalb können Portale wie unseres existieren - und deshalb muss ich sagen, dass ich mich als Journalist in Ungarn zur Zeit nicht schlecht fühle."

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"Die Freiheit der Presse in Ungarn ist am Ende", verkündete die Zeitung "Népszabads­ág" (Volksfreih­eit) schon 2016
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Attila Babos, Mitgründer des ungarische­n Internet- Portals "Szabad Pécs" (Freies Pécs)

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