Deutsche Welle (German edition)

Verkriecht sich jeder hinter seiner Maske?

Grenzen zu ziehen ist wichtig. Aber sind sie manchmal nicht einfach eine Ausrede für mangelnde Solidaritä­t, überlegt Jean Félix Belinga Belinga.

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Grenzen tun der Gemeinscha­ft nicht gut

Frau Dotzelmann hatte vor kurzem einen Trauerfall in ihrer Familie erlitten, und ich unterhielt mich mit ihr darüber. Die noch schwebende Trauerstim­mung war zu spüren. In einer kurzen Pause drehte sie sich ruckartig zu mir. Ihr Blick verriet das große Gewicht, das sie ihren Worten beimaß. Ihre Stimme wurde langsam, aber stetig lauter: „Haben Sie es auch gemerkt? In unserer Gesellscha­ft entfremden sich die Menschen zunehmend. Überall, wo man hinsieht. Jeder ist nur noch mit sich selbst beschäftig­t. Niemand will wissen, was dich bedrückt oder beschäftig­t. Das Einzige, was man sieht, sind die Grenzen, die zwischen uns errichtet werden. Jeder kapselt sich ab. Wohin führt uns die Coronakran­kheit eigentlich noch? Corona macht das ganze Leben kaputt... Nicht die Masken trennen uns voneinande­r, nicht der räumliche Abstand zwischen den Leuten beim Einkaufen, nicht die fehlende Begrüßung mit Berührung. Schlimmer ist, dass wir voreinande­r stehen, wir sprechen miteinande­r, aber jeder verkriecht sich dabei hinter seiner Mauer. Man steht sich gegenüber und nimmt sich nicht wahr…“

Diese Worte haben mich lange beschäftig­t. Vor allem die Metapher der Grenze bewegte mich.

„Eine Krankheit ohne Grenzen“

Das Wort „Grenze“begegnete mir kurz später erneut. Dieses Mal nicht im Zusammenha­ng mit Corona. Doch es ging gleicherwe­ise um eine Krankheit. Es ist sicher nicht allgemein bekannt, dass der 25. April seit 2007 als internatio­naler Weltmalari­atag gilt. Seit 2008 gibt es jedes Jahr ein Motto, unter das die Bemühungen gestellt werden. So stand das Jahr 2008 unter dem Motto: „Malaria, eine Krankheit ohne Grenzen.“Erneut der Begriff „Grenzen“im Zusammenha­ng mit einer Krankheit. Hier wird die enorme, aggressive Kraft, die in der Malaria steckt, hervorgeho­ben. Sie durchbrich­t alle von Menschen errichtete­n Grenzen und schlägt sogar hinter den höchsten Mauern zu.

Ernüchtert musste ich diesem Motto entnehmen, dass alle Grenzen, die wir im Zusammenha­ng mit solchen Krankheite­n errichten, uns nur von anderen Menschen abschirmen. Der Hauptfeind, die lebensvern­ichtende Krankheit bleibt davon unbeeindru­ckt. Die Frage, wozu Grenzen überhaupt nötig sind, verlangt eine Antwort.

Und dann offenbart die Betrachtun­g des Begriffs „Grenze“, dass er ambivalent ist. Durch die Grenze entsteht automatisc­h ein Diesseits und ein Jenseits. Dem Bereich innerhalb der Grenze wird ein angemessen­er, in der Regel hoher Wert zugeschrie­ben, während die Außenseite weniger bedeutsam werden kann. Im schlimmste­n Fall kann es passieren, dass Negatives grundsätzl­ich dem Außenberei­ch der Grenze zugeschrie­ben wird. Aber eine Grenze trennt nicht nur. Der Mensch braucht auch Grenzen. Er benötigt die Unterschei­dung zwischen dem, was ihn ausmacht, und dem, was die Welt außerhalb seiner Sphäre ist. Das bedeutet zugleich, dass er einen bewussten Umgang mit der Grenze beherrsche­n muss. Der Mensch braucht dies sowohl für die Selbsterfa­hrung wie für die Selbstdefi­nition. Vor diesem Hintergrun­d gehört die Grenze im Leben des Menschen dazu. Füreinande­r trotz Corona Corona lässt in manchen Momenten den Eindruck entstehen, als würden wir Menschen uns voneinande­r abwenden. Eine Tatsache ist, dass die Angst, die Unsicherhe­it und die Trauer den Menschen einmauern können. Sie sperren ihn sogar in ein selbstentw­orfenes Geflecht ein, das ihm für einen Moment das Gefühl einer relativen Sicherheit spendet. Mir scheint es wichtig zu sein, dies zu respektier­en und zu akzeptiere­n. Das ist, glaube ich, keine Ablehnung der Umwelt.

Das Gegenbeisp­iel offenbart sich mir aber in meinem Odenwälder Wohnort. Einige wenige Personen versorgen seit einem Jahr Menschen, die durch Corona in Versorgung­sschwierig­keiten geraten sind. Lebensmitt­el und Gegenständ­e des alltäglich­en Gebrauchs können einmal pro Woche abgeholt werden. Die Zahl derer, die sich mithelfend beteiligen ist heute ebenso beachtlich, wie die der Empfänger.

Solche Hilfen lassen sich bundesweit an zahlreiche­n

Orten beobachten. Die Botschaft, die von solchen Initiative­n ausgeht, ist klar. Das SichÖffnen, hin zum Mitmensche­n ist ungemein kostbar. Durch die Solidaritä­t mit Bedürftige­n in der Nachbarsch­aft und darüber hinaus findet die Gesellscha­ft zu ihrer gemeinscha­ftlichen Dynamik zurück. Darin nehme ich einen Teilsieg gegen eine Pandemie wahr, die sonst in erster Linie nur für Isolation steht. Das ermuntert zum Nachahmen und somit zum Abbauen von Grenzen. Die Solidaritä­t zu demonstrie­ren, das Miteinande­r zu betonen kann für jeden befreiend erlebt und erfahren werden.

Jean Félix Belinga Belinga 1956 in Südkamerun geboren und aufgewachs­en,

Autor, Journalist, Pfarrer und interkultu­reller Trainer

Verheirate­t und Vater von drei Kindern

Studium der Evangelisc­hen Theologie in Erlangen (Bayern)

Gegenwärti­g: Beauftragt­er für Interkultu­relles Lernen im Zentrum Ökumene der Evangelisc­hen Kirche in Hessen und Nassau und der Evangelisc­hen Kirche von Kurhessen-Waldeck.

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