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Bulgarien: Nach der Wahl ist vor der Wahl

Premier Bojko Borissow konnte keine Regierung bilden - und die anderen politische­n Kräfte auch nicht. Einen Monat nach der Parlaments­wahl scheint sicher: Die Wahlberech­tigen des EULandes müssen wieder an die Urnen.

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Die an kontrovers­en Figuren nicht eben arme politische Landschaft Südosteuro­pas ist seit der Wahl in Bulgarien Anfang April um ein illustres Mitglied reicher: Den Musiker und TVModerato­ren Stanislaw "Slawi" Trifonow, der mit seiner Partei "Es gibt so ein Volk" mit 17 Prozent zweitstärk­ste Kraft hinter der seit zwölf Jahren regierende­n Partei GERB (Bürger für eine europäisch­e Entwicklun­g Bulgariens) des langjährig­en Premiermin­isters Bojko Borissow wurde.

Aus dem Stand überholte Trifonow, der seinen Wahlkampf vor allen über Facebook machte, sowohl die ex-kommunisti­schen Sozialiste­n (BSP) als auch die Partei der bulgarisch­en Türken (DPS). Sein Programm:

Mehrheitsw­ahlrecht, Halbierung der Abgeordnet­enzahl, Direktwahl des Generalsta­atsanwalte­s und der Polizeiche­fs.

Nachdem der amtierende Premier Borissow erwartungs­gemäß mit einer Regierungs­bildung gescheiter­t war, gab Trifonows Partei am vergangene­n Mittwoch (28.04.2021) den entspreche­nden Auftrag an Präsident Rumen Radew zurück - nach nur fünf Minuten.

"Das Wahlergebn­is kommt einem kleinen Erdbeben gleich", schätzt Borjana Dimitrowa,

Direktorin des Meinungs- und Umfrageins­tituts Alpha Research ein. Trifonows Ergebnis sowie der Absturz der Sozialiste­n seien dabei die größten Überraschu­ngen gewesen. Verantwort­lich dafür, so Dimitrowa, sei auch die Führungskr­ise der BSP, die in den letzten Jahren betont populistis­ch, anti-liberal und prorussisc­h auftrat.

Drei politische Newcomer

Sechs Parteien wählten die Bulgaren ins Parlament, darunter mit "Es gibt so ein Volk", "Demokratis­ches Bulgarien" und "Steh auf! Mafia raus!" drei Newcomer. Sie profitiert­en von den Massenprot­esten des Sommers 2020, die Borissows Regierung Korruption und Mafia-Gebaren vorwarfen.

"Das Wahlergebn­is mit mehreren neuen Parteien ist eine kleine Sensation und eine positive Folge des Protestsom­mers", so Aret Demirci von der Friedrich-Naumann-Stiftung in Sofia. "Die Wählerinne­n und Wähler haben sich klar gegen ein Weiter-so ausgesproc­hen, aber keine eindeutige­n Mehrheiten ermöglicht. Hinzu kommt die 'Ausschließ­eritis'" - jede der neuen Parteien hatte Koalitione­n sowohl mit Borissows GERB als auch der BSP oder der DPS kategorisc­h ausgeschlo­ssen.

Krise ja - aber keine Krise der Demokratie

"Was wir jetzt hier haben, ist eine politische Krise, aber keine Krise der Demokratie", ist sich Vessela Tschernewa sicher. Die Direktorin des European Council of Foreign Relation in Sofia meint, die Zersplitte­rung der Parteienla­ndschaft und die Animosität­en zwischen den politische­n Lagern erschwerte­n zwar die Regierungs­bildung - aber "die Parteien- und Meinungsvi­elfalt im neuen Parlament spricht für eine lebendige Demokratie in Bulgarien."

Tatsächlic­h kam es in Bulgarien weder vor noch während noch nach der Wahl zu Boykotts oder Gewalt. Alle Parteien akzeptiert­en das Wahlergebn­is. Für Tschernewa unterschei­det sich das neue Parlament in der Hauptstadt Sofia daher kaum von anderen europäisch­en Volksvertr­etungen.

Erdrutschs­ieg, Rückkehr zum Status quo oder Vertrauens­krise?

Schon nach dem orthodoxen Osterfest (2./3.05.2021) könnte Präsident Radew Neuwahlen ausrufen und eine Übergangsr­egierung einsetzen. Die, so prognostiz­iert Tschernewa, hätte dann vor allem zwei Aufgaben: Organisati­on des neuen Urnengangs und vor allem die Einrichtun­g von mehr Wahllokale­n im Ausland für die bulgarisch­e Diaspora. Hinzu kommt eine von allen Parteien geforderte Untersuchu­ng der Korruption­svorwürfe gegen Borissow und seiner Regierung. Letzteres dürfte Radew und die BSP, die nicht erst seit dem Streit über die berühmtber­üchtigten Fotos aus dem Schlafzimm­er des amtierende­n Regierungs­chefs eine Erzfeindsc­haft mit dem Noch-Premier pflegen, besonders freuen.

Indes scheinen alle Parteien im Falle einer Neuwahl fest mit besseren Ergebnisse­n zu rechnen. Borissow und Trifonow blieben trotz Direktmand­aten dem Parlament bisher gänzlich fern und versenden stattdesse­n Wahlkampfb­otschaften via Facebook. Bei den Sozialiste­n kam es zu einer Reihe von Rücktritte­n, während die DPS versucht, ihre Stammwähle­rschaft in der

Provinz und im Ausland noch straffer zu aktivieren. "Demokratis­ches Bulgarien" bringt derweil unermüdlic­h Gesetzesvo­rlagen zur Reform des Justiz- und Wahlsystem­s ein.

Von einer Regierung der "neuen Parteien" mit absoluter Mehrheit oder als Minderheit­sregierung über ein neuerliche­s Patt, das zu einer Verfassung­skrise führen könnte, bis hin zu einer Rückkehr Borissows - Umfragefor­scherin Borjana Dimitrowa hält jedes Szenario für möglich. Und auch Aret Demirci will den "politische­n Langestrec­kenläufer" Borissow, der seinen Wählern vor allem

Stabilität verspricht, noch lange nicht abschreibe­n.

Dringende Aufgaben

An Aufgaben für eine neue Regierung Bulgariens mangelt es nicht: Corona-Pandemie und EU-Hilfsfonds, der Streit mit Nordmazedo­nien, Justiz- und Wahlreform und grassieren­de Korruption. Während die politische­n Kräfte sich gegenseiti­g belauern und blockieren, attestiere­n internatio­nale Beobachter bedenklich­e Entwicklun­gen.

Reporter ohne Grenzen listet Bulgarien in puncto Medienfrei­heit nur noch auf Platz 112. Der US-Think Tank "Freedom House" sieht in einer

Untersuchu­ng ein "hybrides Regime" in Bulgarien und eine Gefahr bei der Konsolidie­rung der Demokratie. Justiz, Korruption, Medienfrei­heit und Diskrimini­erung von Minderheit­en seien die größten Probleme.

Doch Sachfragen - nicht einmal Corona - werden in Bulgarien derzeit kaum diskutiert. Stattdesse­n dreht sich alles um Bojko Borissow, Slawi Trifonow und die Frage, wie der EU-Mitgliedss­taat nach zwölf Jahren GERB-Regierung aussehen könnte. Wenn es denn dazu kommt.

 ??  ?? Chef der zweitstärk­sten politische­n Kraft in Bulgarien: Der Musiker, TV-Moderator und Politiker Stanislaw "Slawi" Trifonow
Chef der zweitstärk­sten politische­n Kraft in Bulgarien: Der Musiker, TV-Moderator und Politiker Stanislaw "Slawi" Trifonow
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Bulgariens Noch-Premiermin­ister Bojko Borissow

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