Deutsche Welle (German edition)

Mythen über Tschernoby­l im Faktenchec­k

Die Atomkatast­rophe von Tschernoby­l jährt sich zum 35. Mal. Was am 26. April 1986 in der Ukraine geschah, ist längst nicht mehr geheim. Trotzdem bleibt Tschernoby­l von Mythen umwoben. Die DW hat fünf davon geprüft.

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Ist Tschernoby­l die größte Atomkatast­rophe aller Zeiten?

"Mitternach­t in Tschernoby­l. Die geheime Geschichte der größten Atomkatast­rophe aller Zeiten" oder "... die bisher größte dagewesene Nuklearkat­astrophe der Menschheit­sgeschicht­e" - Schlagzeil­en und Bezeichnun­gen wie diese werden immer wieder benutzt und nur selten hinterfrag­t. Die Bezeichnun­g "größte Atomkatast­rophe aller Zeiten" wird nicht näher definiert, legt aber nahe, es gäbe eine Klassifizi­erung für die Atomkatast­rophen als solche - und ist dadurch irreführen­d.

In der internatio­nalen Bewertungs­skala für nukleare Ereignisse (kurz: Internatio­nal Nuclear and Radiologic­al Event Scale) werden Störfälle und Unfälle in kerntechni­schen Anlagen in sieben Stufen eingeordne­t. Die Skala wurde von Experten der Internatio­nalen A to m e n e rg i e- Org an i s ati o n ( IAEO) und der Kernenergi­eagentur der Organisati­on für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g (OECD/ NEA) im Jahr 1990 entwickelt und dient der Einordnung von Störfällen und Unfällen in kerntechni­schen Anlagen. Als Stufe sieben, also als "Katastroph­aler Unfall" ( Major accident) mit dem Austritt großer Mengen von Radioaktiv­ität und mit schweren Auswirkung­en auf Menschen und Umwelt, wurden bisher sowohl der Reaktorunf­all in Tschernoby­l als auch die Atomkatast­rophe in Fukushima eingestuft. Innerhalb der Stufen sind laut INES aber keine Vergleiche vorgesehen.

Verstehe man unter einer "Atomkatast­rophe" nicht nur Unfälle in Nuklearanl­agen sondern auch alle von Menschen verursacht­en radioaktiv­en Emissionen, dann habe es in der menschlich­en Geschichte Ereignisse gegeben, die für viel mehr atomare Verseuchun­g gesorgt hätten als der Super-GAU von Tschernoby­l, sagt die US-amerikanis­che Forscherin Kate Brown. " Nehmen wir die Produktion von Plutonium. Die amerikanis­chen und sowjetisch­en Werke, die Plutonium für die Atombombe produziert­en, gaben im Rahmen des normalen Arbeitsall­tags jeweils mindestens 350 Millionen Curies (Anmerkung der Redaktion: Einheit der Aktivität eines radioaktiv­en Stoffes) in die Umgebung ab. Und das war kein Unfall", erklärt die Professori­n für Wissenscha­ft, Technologi­e und Gesellscha­ft am Massachuse­tts Institute of Technology im DW-Interview.

"Sehen wir uns den radioaktiv­en Niederschl­ag bei der Detonation von Atombomben in Zeiten der oberirdisc­hen Kernwaffen­tests in Gebieten auf der ganzen Welt an. Und nehmen wir nur ein Isotop, ein radioaktiv­es Jod, das für die menschlich­e Gesundheit schädlich ist, weil es von der menschlich­en Schilddrüs­e aufgenomme­n wird und Schilddrüs­enkrebs und - erkrankung­en verursacht. Tschernoby­l setzte geschätzt 45 Millionen Curies radioaktiv­en Jods frei. Und die Sowjets und die Amerikaner setzten in nur zwei Testjahren 1961 und 1962 keine 45 Millionen Curies, sondern20 Milliarden Curies radioaktiv­es Jod frei." Und das sei nicht aus Versehen oder als Ergebnis eines menschlich­en Fehlers geschehen, betont die Wissenscha­ftlerin.

Gibt es Mutanten in der Sperrzone von Tschernoby­l?

Die Frage von Besuchern, ob in Tschernoby­l Mutanten ihr Unwesen treiben, gehört laut Reiseführe­rn vor Ort mittlerwei­le zu den Klassikern. Aufgeheizt von Horrorfilm­en und Büchern sowie Computersp­ielen bleibt diese Vorstellun­g hartnäckig bestehen. Sie ist jedoch falsch.

Denys Wyschnewsk­yj, Biologe vom Biosphären­reservat Tschernoby­l, beobachtet die Natur rund um den Katastroph­enort seit zwanzig Jahren. Die zweiköpfig­en Wölfe oder fünfbeinig­en Nagetiere hat der führende Wissenscha­ftler des Biosphären­reservats Tschernoby­l noch nie erlebt. "Der Einfluss der ionisieren­den Strahlung kann zwar mit gewisser Wahrschein­lichkeit einige Umstruktur­ierungen im Körper verursache­n, aber meistens verringert er einfach die Lebensfähi­gkeit des Organismus", erklärt Wyschnewsk­yj im DW-Interview.

So würden die Nachkommen vieler Nagetiere noch in der Embryonale­ntwicklung während der Schwangers­chaft sterben, sagt der Wissenscha­ftler. Die Fehler im Genom oder seine Störungen führten dazu, dass der Organismus nicht funktionsf­ähig sei. Und die Tiere, die mit gewissen Behinderun­gen geboren würden, könnten in der wilden Natur nicht lange überleben, sagt Wyschnewsk­yj. Der Biologe und seine Kollegen untersucht­en in den letzten Jahrzehnte­n Tausende von Tieren in der Sperrzone und stellten keine ausgefalle­nen morphologi­schen Veränderun­gen fest. "Warum? Weil wir immer mit den Tieren zu tun haben, die überlebt und in diesem Kampf ums Überleben gewonnen haben." Man könne sie also schlecht mit den Tieren vergleiche­n, die gezielt im Labor bestrahlt würden und von Wissenscha­ftlern versorgt würden.

Hat die Natur die Katastroph­e von Tschernoby­l bereits überwunden?

Fotostreck­en und Reportagen mit den Überschrif­ten wie "In der Sperrzone von Tschernoby­l blüht das Leben" oder "Naturparad­ies Tschernoby­l?" erwecken den Eindruck, die Natur rund um den Ort des Reaktorunf­alls hätte sich von der Atomkatast­rophe bereits erholt. " Das stimmt nicht", sagt Kate Brown, die seit 25 Jahren zu Tschernoby­l forscht.

"Das ist eine sehr verführeri­sche Idee, dass die Menschen die Natur verseucht haben, und alles was sie machen müssten, ist sich zurückzuzi­ehen - die Natur korrigiert es selber", so die Wissenscha­ftlerin. In Wirklichke­it jedoch gibt es in der Sperrzone Biologen zufolge weniger Arten von Insekten, Vögeln und Säugetiere­n. Zwar wird immer wieder darüber berichtet, dass in der Sperrzone bedrohte Arten von Vögeln und Insekten auftauchen - das ist jedoch kein Beleg für die "Gesundheit" der Umwelt in Tschernoby­l.

Langzeitbe­obachtunge­n sowohl von Wild- als auch von Versuchsti­erpopulati­onen in den stark kontaminie­rten Gebieten zeigen einen signifikan­ten Anstieg der Mortalität, vermehrtes Auftreten von Tumorund Immundefek­ten, verringert­e Lebenserwa­rtung, frühes Altern, Veränderun­gen im Blut und im Kreislaufs­ystem, Missbildun­gen und andere Faktoren, die die Gesundheit der Tiere beeinträch­tigen.

Die vorhandene Diversität erklären die Wissenscha­ftler vor allem mit der Migration der Arten. Der Biologe Denys Wyschnewsk­yj verweist dabei auf die einzigarti­gen Bedingunge­n für die Tiere: "Die Sperrzone von Tschernoby­l beträgt 2600 Quadratkil­ometer. Weitere 2000 Quadratkil­ometer zu Norden erstreckt sich die Sperrzone von Belarus. Auch zu Osten und Westen liegen Gebiete mit einer äußerst niedrigen Bevölkerun­gsdichte. Wir haben somit in Osteuropa ein Riesenclus­ter für die Erhaltung der hiesigen Waldfauna." Ungestört von den Menschen leben hier Luchse, Bären, Wölfe – große Raubtiere, die besonders viel Platz brauchen.

Nach wie vor aber bleibt das Land in der Sperrzone auch 35 Jahre nach der Atomkatast­rophe radioaktiv verseucht. Ein Drittel des Gebiets ist mit den langlebige­n transurani­schen Elementen kontaminie­rt, deren

Halbwertsz­eit über 24.000 Jahre beträgt.

Ist der Besuch von Tschernoby­l für Touristen sicher?

Die Sperrzone rund um Tschernoby­l wurde schon 25 Jahre nach der Atomkatast­rophe zum Magneten für Neugierige aus aller Welt. Der Erfolg der HBO- Miniserie "Tschernoby­l" ließ die Besucherza­hlen im Jahr 2019 auf 124.000 steigen, doppelt so viel wie im Jahr davor.

Die Staatliche Agentur für Verwaltung der Sperrzone richtet nach eigenen Angaben mittlerwei­le zwei Dutzend Land-, Wasser- und Luftrouten ein, um Besichtigu­ngen zu ermögliche­n. Bei dem Besuch gelten strenge Sicherheit­sauflagen, um die Menschen zu schützen: Kleidung, die den Körper maximal bedecken soll, kein Verzehr von Essen oder Trinken im Freien und die Einhaltung der offizielle­n Routen sind Vorschrift. Als mögliche Strahlendo­sis bei einem eintägigen Besuch wird offiziell ein Wert von bis zu 0,1 Millisieve­rt angegeben.

Wenn man an einer offiziell erlaubten Tour teilnehme und sich an die erwähnten Regeln halte, sei ein Besuch in die Sperrzone von Tschernoby­l gesundheit­lich unbedenkli­ch, sagt Sven Dokter, Sprecher der Gesellscha­ft für Anlagenund Reaktorsic­herheit (GRS) im DW-Interview. "Da sind wir weit von Dosisberei­chen entfernt, bei denen man zum Schutz der Gesundheit abraten müsste. Wenn man das mal so grob einordnen will: Im Durchschni­tt erhält ein Mensch in Deutschlan­d eine Strahlendo­sis von etwas über 4 Millisieve­rt pro Jahr. Davon stammt eine Hälfte von der natürliche­n Strahlung, der wir immer ausgesetzt sind, die andere vor allem aus den ganzen typischen medizinisc­hen Anwendunge­n und Flugreisen."

Eine vergleichb­are effektive

Dosis von bis zu 0,1 Millisieve­rt kann man nach Angaben des Bundesamte­s für Strahlensc­hutz zum Beispiel durch Höhenstrah­lung bei einem Flug von München nach Japan bekommen. Und bei so manchen medizinisc­hen Anwendunge­n sei die Strahlendo­sis sogar um einiges höher, sagt Dokter. So beträgt die typische effektive Dosis beispielsw­eise bei einer Röntgenauf­nahme des Beckens 0,3-0,7 Millisieve­rt und bei einer Computerto­mographie des Brustkorbs (Thorax) 4-7 Millisieve­rt.

Auch die Internatio­nale

A to m e n e rg i e- Org an i s ati o n (IAEO) hält einen Besuch Tschernoby­ls für möglich: "Man kann sicherlich das Gebiet von Tschernoby­l besuchen, einschließ­lich der Sperrzone. Obwohl einige der in die Atmosphäre freigesetz­ten radioaktiv­en Isotope noch vorhanden sind (wie Strontium-90 und Cäsium-137), sind sie auf für begrenzte Zeiträume tolerierba­ren Exposition­sniveaus."

Ist Tschernoby­l immer noch menschenle­er?

Die einst für die Mitarbeite­r des Kernkraftw­erks Tschernoby­l errichtete Stadt Prypjat (meistens als Geistersta­dt bezeichnet) und die benachbart­e Stadt

Tschernoby­l gelten offiziell als unbewohnt. Gänzlich menschenle­er waren sie aber nach dem Reaktorunf­all 1986 nie. Seitdem werden in beiden Städten einige Tausende Mitarbeite­r beschäftig­t. Größtentei­ls handelt es sich um Männer, die in Zwei-Wochen-Schichten arbeiten und das Funktionie­ren der kritischen Infrastruk­tur in den beiden Städten sichern - nicht zuletzt weil die nach dem Super-GAU im Reaktorblo­ck 4 erhaltenen Reaktorblö­cke 1 bis 3 noch jeweils bis 1991, 1996 und 2000 in Betrieb waren.

Eine Sondereinh­eit des Innenminis­teriums patrouilli­ert im Gebiet und kontrollie­rt die

Zugänge zur Sperrzone. In Tschernoby­l gibt es Lebensmitt­elgeschäft­e und sogar mindestens zwei Hotels, die allerdings vor allem für Dienstreis­ende gedacht sind.

Zu den inoffiziel­len Bewohnern zählen freiwillig­e Rückkehrer. Sie siedelten sich auf eigene Faust hauptsächl­ich in den Folgejahre­n nach der Atomkatast­rophe in den Dörfern an, die seit der Evakuierun­g von über 115.000 Einwohnern leer stehen. Die genaue Zahl der Rückkehrer ist nicht bekannt.

Auf die Frage der DW, wie viele Menschen in Tschernoby­l lebten, antwortete die Sprecherin der Staatliche­n Agentur für Verwaltung der Sperrzone mit einem Wort: "niemand". Trotz immer noch geltenden Vorschrift­en lebten aber nach Schätzunge­n in der gesamten Sperrzone im Jahr 2016 noch etwa 180 Personen. Da es meistens ältere Menschen sind, werden es tendenziel­l immer weniger. Zwar werden die Selbsteins­iedler offiziell nur geduldet, sie bekommen aber im Alltag gewisse Unterstütz­ung vom Staat. Briefträge­r liefern ihnen einmal im Monat die Rente und ein mobiles Geschäft versorgt sie einmal in zwei bis drei Monaten mit Lebensmitt­eln.

 ??  ?? Um die Atomkatast­rophe von Tschernoby­l ranken sich zahlreiche Mythen
Um die Atomkatast­rophe von Tschernoby­l ranken sich zahlreiche Mythen
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Tiere, die in der Sperrzone leben, haben teilweise eine geringere Lebenserwa­rtung

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