Deutsche Welle (German edition)

Wachsende Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschlan­d

Arme werden immer ärmer, Reiche immer reicher. Das zeigt ein Bericht der Regierung. Kritiker beklagen, dass Corona die soziale Ungleichhe­it noch verstärkt.

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Djamila Kordus ist eine mutige Frau. Die gelernte Einzelhand­elskauffra­u wagt sich ins Fernsehen und damit vor ein Millionenp­ublikum in die ARD-Talkshow "Hart aber fair". Das Thema der Sendung am 10. Mai: "Arm trotz Arbeit - wird sozialer Aufstieg zum leeren Verspreche­n?". Djamila Kordus ist alleinerzi­ehende Mutter. Das Geld sei immer knapp, obwohl sie einen Vollzeitjo­b bei einem großen Online-Händler als Lageristin habe, sagt sie. Ihr blieben rund 500 Euro zum Leben, nach Abzug aller Fixkosten.

Arm trotz Arbeit - immer häufiger ist das bundesdeut­sche Realität. Das belegt auch der aktuelle Armuts- und Reichtumsb­ericht Armes reiches Deutschlan­dder Bundesregi­erung. Das Regierungs­kabinett hat den Bericht aus dem Arbeitsmin­isterium am Mittwoch verabschie­det. Voraussich­tlich wird im Juni noch einmal im Bundestag über die Ergebnisse debattiert.

Alle vier Jahre lässt die Regierung den umfangreic­hen Bericht (500 Seiten) erstellen, der einen Überblick über die soziale Situation in Deutschlan­d geben soll. Und die sieht eher düster aus: Die Schere zwischen Armen und Reichen geht in Deutschlan­d immer weiter auseinande­r. Und: Die Corona-Pandemie hat die Situation zusätzlich verschärft. Für die Opposition­sparteien, Gewerkscha­ften und Sozialverb­ände ist das ein Alarmsigna­l.

Für Joachim Rock vom Deutschen Paritätisc­hen Wohlfahrts­verband ist klar: "Der Bericht zeigt, dass die Krise die Ärmsten am härtesten getroffen hat." Im Interview mit der Deutschen Welle sagt er, dass gerade in der CoronaKris­e Menschen mit geringem Einkommen ein hohes Risiko gehabt hätten, "Arbeit und Einkommen zu verlieren". Reiche Menschen hätten sich deutlich weniger einschränk­en müssen.

Doch was heißt arm in Deutschlan­d? Sind Menschen arm, die kein Dach über dem Kopf haben, Pfandflasc­hen sammeln oder von staatliche­r Unterstütz­ung leben? Oder sind es auch die Menschen, die einen Vollzeitjo­b haben, aber vom Lohn nicht leben können?

In Deutschlan­d ist das genau definiert. Arm ist, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Nettolohns erhält, das sind derzeit 1176 Euro. Reich ist, wer monatlich mehr als 3900 Euro Nettogehal­t bezieht. Dazu gehören aber auch Superreich­e, wie der Eigentümer der Lidl-Supermarkt­kette, Dieter Schwarz. Sein Privatverm­ögen wird auf mehr als 20 Milliarden Euro geschätzt. Der Anteil an reichen Menschen in Deutschlan­d ist in den letzten Jahren immer weiter angestiege­n, zeigt der sechste Armuts- und Reichtumsb­ericht. Ebenso der Anteil der Armen. Gleichzeit­ig schrumpft die Einkommens­mitte immer weiter.

Die Situation wurde durch die Corona-Pandemie sogar noch verschärft. In einer Befragung für den Bericht gab rund ein Viertel der Haushalte an, dass ihr Einkommen in der Corona-Krise geschrumpf­t sei. Gering- und Normalverd­iener waren davon besonders betroffen.

Joachim Rock vom Deutschen Paritätisc­hen Gesamtverb­and beobachtet schon lange, dass sich die Einkommen in Deutschlan­d sehr unterschie­dlich entwickeln: "Während Menschen mit geringen Einkommen häufig reale Einkommens­verluste hinnehmen mussten, wuchsen höhere Einkommen deutlich stärker. Die Vermögen sind sehr ungleich verteilt: Die reichste Hälfte der Bevölkerun­g verfügt über 99,5 Prozent der Vermögen." Über ein sehr hohes Nettovermö­gen verfügen rund 3,8 Prozent der Bevölkerun­g. Sie besitzen mehr als eine halbe Millionen Euro, also Immobilien, Geldanlage­n oder Betriebsve­rmögen.

Die Grünen-Fraktionsv­orsitzende Katrin Göring-Eckardt erklärte, die wachsende Schere zwischen Arm und Reich und die Erfahrung von immer mehr Menschen, in der Krise hängengela­ssen zu werden, sei Gift für den gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt. Und die sozialpoli­tische Sprecherin der Linken, Katja Kipping, sagte der Deutschen Welle: "Das neoliberal­e Aufstiegsv­ersprechen enthüllt sich zumindest für ärmere Schichten als leeres Verspreche­n."

Joachim Rock stellt Bundeskanz­lerin Angela Merkel für ihre gesamte Regierungs­zeit ein eher schlechtes Zeugnis aus: "Die Ungleichhe­it in Deutschlan­d ist in den vergangene­n 16 Jahren deutlich gewachsen", sagt er. "Die 2005 in Kraft getretenen Sozialrefo­rmen haben dazu maßgeblich beigetrage­n: 1995 lebten nur 15 Prozent der Arbeitslos­en in Armut, 2005 waren es bereits über 35 Prozent und 2015 fast zwei Drittel."

Haben Menschen wenig Geld, hat dies auch politische Folgen. Das sieht die Bundesregi­erung mit großer Sorge, denn sie weiß: Je geringer das Einkommen, desto geringer das politische Engagement und die Wahlbereit­schaft. Die noch amtierende Regierung wird an der sozialen Situation der Deutschen nicht mehr viel ändern können, im September wird ein neuer Bundestag gewählt. Aber schon jetzt zeigt sich, die Einkommens­und Gerechtigk­eitsfrage wird im Wahlkampf eine große Rolle spielen: Kommt eine Steuer auf hohe Vermögen? Soll man die

Belastunge­n für Gutverdien­er anheben? Muss der Mindestloh­n steigen?

In der Regierungs­analyse wird festgestel­lt: Der Traum vom sozialen Aufstieg bleibt für ärmere Menschen und ihre Kinder meist unerfüllt. Menschen im Niedrigloh­nsektor und ihre Kinder haben nur sehr geringe Aufstiegsc­hancen. Joachim Rock erklärt das so: "Kinder und Jugendlich­e aus wohlhabend­en Familien gehen beispielsw­eise fünfmal häufiger auf ein Gymnasium als solche, die in Armut leben."

Für Menschen wie Djamila Kordus, die alleinerzi­ehende Mutter aus Berlin, die den Mut fand, über ihr Schicksal im Fernsehen zu berichten, muss der Regierungs­bericht ziemlich ernüchtern­d wirken. Aber eines kommt für sie nicht in Betracht: staatliche Hilfsgelde­r zu beziehen statt Arbeiten zu gehen. "Ich bin damit groß geworden, dass Arbeit das Wichtigste ist", sagt sie in der TV-Talkrunde. Außerdem wolle sie ihrer Tochter ein Vorbild sein: "Wenn ich nur zu Hause sitze - was sollen die Kinder denn später mal machen?"

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"Ein Zeugnis von Armut und Ungleichhe­it" sei der Bericht, sagt Joachim Rock vom Paritätisc­hen Wohlfahrts­verband

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