Deutsche Welle (German edition)

Corona schrumpft ihre Welt: Menschen mit Behinderun­g im Wohnheim

Nicht mehr zusammen in die Stadt, wenig Besuch, Distanz zu Familie und Freunden. Wie erleben Menschen mit kognitiver Beeinträch­tigung die Pandemie? Andrea Grunau hat sie gefragt.

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Corona hat ihr Leben völlig verändert: Michaela Iltis und Rolf-Dieter Bärz sind ein Paar. Sie leben im selben Haus, aber sie sehen sich nur noch kurz, meist mit Maske. Stefan Jung war seit über einem Jahr nicht mehr bei seiner Nichte in Köln: "Ich habe Heimweh."

Rita Wingender vermisst ihre Kontakte in der Stadt, außerhalb des Wohnheims. Jörg Jacobs verlor im Herbst seine Mutter, weil sie sich im Altenheim mit COVID-19 infizierte. Er konnte sich nicht mehr verabschie­den, bevor sie starb.

Sie alle leben in einer "besonderen Wohnform" für Menschen mit kognitiver Behinderun­g, im Haus am Quendelber­g des katholisch­en Caritasver­bands in

Montabaur, einer Kreisstadt im Westen Deutschlan­ds mit 14.000 Einwohnern.

Auf drei Etagen teilen sich je acht Personen eine Wohnküche. Corona vergessen kann hier keiner: Außer bei den Mahlzeiten und im eigenen Zimmer trägt jeder eine FFP2-Maske - genau wie die Betreuer.

Rita Wingender ging vor Corona gerne in die Stadt, Eis essen, Kaffee trinken, Kontakte knüpfen. Sie sagt, wie wichtig es ist, Schutzmask­en zu tragen, "damit Leute nicht angesteckt werden". Doch sie beobachtet: "Da sind andere Leute, die keine Masken anhaben."

Vor der Pandemie war sie zwei bis drei Stunden unterwegs, sprach mit vielen Menschen. Heute komme sie oft nach zehn Minuten zurück, berichtet Hausleiter Matthias Dill.

Rita Wingender erzählt von Freizeiten in Holland oder an der polnischen Grenze: "Das ist lange her." Wegen des fehlenden Abstands im Bus sei jetzt nicht mal ein Ausflug in den Wald möglich, sagt Matthias Dill.

Im Wohnheim hat jeder ein Zimmer mit Bad für sich. Stefan Jung sammelt Bücher über historisch­e Personen: Rechenmeis­ter Adam Riese, Ordensfrau und Universalg­elehrte Hildegard von Bingen und Buchdruck-Erfinder

Johannes Gutenberg. In der Corona-Zeit hat er viel gelesen. Der 63-Jährige interessie­rt sich für Tischtenni­s und Fußball, er ist Bayern München-Fan. Samstags schaut er die Sportschau.

Er geht aber auch sehr gerne in die Stadt oder spazieren. "Dass ich nicht raus durfte, war das Schwerste", erinnert sich Stefan Jung an den Beginn der Pandemie: "Am Anfang durfte man nicht raus!"

Von ersten Lockerunge­n ausgeschlo­ssen

Vom Haus am Quendelber­g ist man schnell beim Bäcker, im Supermarkt, in der Fußgängerz­one oder einem kleinen Park. Als im März 2020 die Corona-Auflagen griffen, sollten alle im Haus bleiben, berichtet Matthias Dill. Wurden seine Klienten weggesperr­t? "Weggesperr­t klingt sehr hart, aber es hatte was davon", sagt der Heilerzieh­ungspflege­r. Das Personal habe Überzeugun­gsarbeit leisten müssen, das sei besser gelungen als erwartet.

Schwierige­r wurde es, sagt Dill, als die allgemeine­n Regeln gelockert wurden: "Unsere Klienten haben aus dem Fenster gesehen, das Leben draußen beginnt wieder, waren aber selbst noch stärker eingeschrä­nkt." Corona-bedingt fiel für sie alles aus: das Projekt mit Besuchshun­den ebenso wie Sommerfest, Adventsfei­er oder Begegnunge­n im Park der evangelisc­hen Kirchengem­einde.

Strenge Corona-Regeln wie für Alten- und Pflegeheim­e

Menschen mit Behinderun­g in Wohnheimen wurden in der Corona-Krise stark eingeschrä­nkt. Gut 196.000 Personen zählt der Teilhabebe­richt der Bundesregi­erung im "stationäre­n Wohnen", fast zwei Drittel mit "geistigen Beeinträch­tigungen" ( Stand 2017).

Das Robert- Koch- Institut (RKI) hat für solche Einrichtun­gen dieselben Corona-Schutzrege­ln empfohlen wie für Altenund Pflegeheim­e. Auch Menschen mit Behinderun­g in Wohnheimen gelten als vulnerabel, als besonders gefährdet im Fall einer COVID-19-Infektion.

Doch das trifft nicht auf alle zu. Erste Studien aus den USA, den Niederland­en und Schweden zeigten, so berichtete das Institut für Teilhabefo­rschung im

Sommer 2020, "dass das Sterberisi­ko bei einer COVID-19-Infektion generell bei Menschen mit geistiger Behinderun­g nicht sehr viel höher ist als in der Gesamtbevö­lkerung", anders "als bei hochaltrig­en Menschen in Altenpfleg­eheimen".

Die Gleichsetz­ung bei den Regeln führte dazu, "dass wir starke Schutzmaßn­ahmen ergreifen mussten, um eine mögliche Infektion zu vermeiden", sagt Hausleiter Matthias Dill. Das sei gelungen. (Zahlen über Ausbrüche in ganz Deutschlan­d konnte das RKI auf DW-Anfrage nicht nennen.)

Bei der Impfung deutlich später dran

Auf die Impfung aber mussten seine Klienten länger warten als Menschen in Pflegeheim­en, die Koordinati­on sei "holpriger" gewesen. Ende April erhielten die meisten die erste Impfung. Dill spricht von Klienten, um zu betonen, dass das Personal sich für die Interessen der 24 Bewohner und ihre Selbstbest­immung einsetzen will: "Es ist unsere Aufgabe, die Leute nach draußen zu bringen. Wir müssten uns im Idealfall überflüssi­g machen."

Alle, die im Haus am Quendelber­g wohnen, haben aufgrund kognitiver Beeinträch­tigungen, die meist seit frühester Kindheit bestehen (seltener durch spätere Unfälle), rechtliche Betreuer. Das können Eltern und Geschwiste­r sein oder Berufsbetr­euer, die für mehr als 20 Personen zuständig sind.

Die Betreuer entscheide­n über finanziell­e ebenso wie medizinisc­he Fragen: Sie genehmigen die Impfung und das Interview mit der Deutschen Welle.

Die meisten Bewohner arbeiten in Werkstätte­n für behinderte Menschen in der Umgebung. Als die 2020 wegen Corona geschlosse­n wurden, machten Betreuer von dort Förder- und Freizeitan­gebote im Wohnheim. Als die Werkstätte­n wieder öffneten, sollten auch dort Kontakte reduziert werden. Wer in Montabaur wohnt, muss auch hier arbeiten. Einige mussten die Arbeitsste­lle wechseln.

Getrennt von Angehörige­n: "Ich habe Sehnsucht"

Wie in Pflegeheim­en wurden auch im Wohnheim Besuche stark eingeschrä­nkt. Ganz am Anfang durfte keiner kommen, bis heute müssen sich Besucher anmelden, dürfen nur begrenzte Zeit bleiben und sollen nicht in die Wohngruppe­n gehen. Für Kontakte per Video-Chat wurde ein Tablet angeschaff­t, aber manche der älteren Angehörige­n sind damit überforder­t. Dann bleibt nur das Telefon.

"Mich hat noch keiner besucht", sagt Michaela Iltis traurig: "Ich habe Sehnsucht nach meiner Tante." Die habe sie vor Corona immer besucht. Wenn sie mit ihr telefonier­e, sage sie: "Wie geht's Dir? Ich vermisse euch!" Die Trennung sei schwer auszuhalte­n.

"Wir dürfen einander nicht sehen. Nicht lang"

Unter Corona leidet auch die Beziehung zu ihrem Freund RolfDieter Bärz, berichtet die 51Jährige. Sie leben auf verschiede­nen Etagen: "Er muss oben bleiben, ich unten. Wir dürfen einander nicht sehen." Rolf-Dieter Bärz sieht sie liebevoll an: "Du kommst schon mal hoch." "Aber nicht lang", entgegnet sie. Sie sitze jetzt mehr in ihrem Zimmer, male Mandalas.

Rolf-Dieter Bärz sitzt morgens im gleichen Bus zur Arbeit wie seine Freundin, mit Maske und Abstand. Sie arbeiten aber in verschiede­nen Gruppen. "Das ist schwer für ihn", sagt Michaela Iltis und wendet sich an ihren Freund: "Dann siehst Du immer, dass mein Gesicht unten hängt." Sie seien beide traurig, wenn sie sich trennen müssen.

Sohn und Mutter isoliert im Heim

Jörg Jacobs (49) hört ihr aufmerksam zu, sie kennen sich schon von der Schule. Er hat Besuch von seinem Bruder Detlev Jacobs. Vor der Corona-Pandemie hat er mit ihm ihre Mutter besucht, die wegen einer Demenzerkr­ankung im Pflegeheim lebte. Am Telefon konnte sie sich nicht mehr verständig­en.

Im Frühjahr 2020 lebten Sohn und Mutter beide isoliert - im Wohn- beziehungs­weise Pflegeheim. Detlev Jacobs hielt den Kontakt zu seinem Bruder, besuchte ihn, sobald das wieder möglich war.

Im Herbst 2020 erkrankte ihre Mutter an COVID-19, sie wurde erneut isoliert. Ihr Zustand verschlech­terte sich, sie starb. Nach einem DW-Bericht hat Detlev Jacobs auf Einladung des Bundespräs­identen bei der Trauerfeie­r für die Verstorben­en in der Corona-Pandemie über seine Mutter gesprochen: "Leider konnte keines ihrer vier Kinder sie auf diesem letzten Weg begleiten. Das war für uns alle sehr traurig."

Er zeigt seinem Bruder das Video seiner Rede, im Hintergrun­d ist das Foto von Renate Jacobs eingeblend­et. "Die Mama", sagt Jörg Jacobs. Detlev Jacobs rief ihn an, als sie starb: "Das war ganz schlimm für Dich, Jörg, als ich das gesagt habe." "Ja", antwortet sein Bruder, "da habe ich geweint". Zu ihrer Beerdigung im Ruhewald konnte er mitkommen.

Corona-Frust und Anfeindung­en

Rolf-Dieter Bärz hat zu den Veränderun­gen durch Corona eine klare Meinung, auch mit Blick auf Besuche: "Beschissen. Kommt keiner." Sein Berufsbetr­euer komme nicht mehr, "bis das rum ist ", sagt Bärz. Mit Maske und Desinfekti­on komme er klar, aber: "Ich habe mir schon die Hände kaputt gemacht." Für die raue Haut hat er jetzt eine Creme aus der Apotheke.

Es gibt aber auch andere Verletzung­en. In der Phase, als sie nur im Wohnheim bleiben mussten, habe er sich vor dem

Haus auf die Bank gesetzt. Da habe jemand angerufen, dass er rein müsse. "Weißt Du das nicht mehr?", fragt er Michaela Iltis. Sie erinnert sich: "Ja. Was soll der Quatsch?!"

Anfeindung­en und spottende Jugendlich­e gab es schon vor Corona, sagt Birgit Reuter. Sie arbeitet in der Verwaltung im Haus am Quendelber­g und zwar sehr gerne, betont sie: wegen des Kontakts zu den Menschen, die hier leben. Schon vor Corona hörte sie verstörend­e Fragen aus der Bevölkerun­g: "Warum lasst ihr die Behinderte­n raus?" Sie kann kaum fassen, wie man so über die Bewohner des Hauses denken und sprechen kann.

Matthias Dill sagt: "Wo wir noch Verbesseru­ngsbedarf sehen, das ist die Barrierefr­eiheit in den Köpfen." Es gebe viele Berührungs­ängste, die die Teilhabe und Akzeptanz seiner Klienten in der Gesellscha­ft behindern: "Wir benötigen Unterstütz­ung der Politik."

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

"Dass das endlich aufhört mit Corona!", sagt Michaela Iltis. Sie freut sich auf das Wiedersehe­n mit ihrer Tante. Stefan Jung will endlich wieder seine Nichte in Köln besuchen. Seine Eltern und seine Schwester sind tot. "Ich habe Heimweh", seine Stimme kippt. Mehrfach wiederholt er: "Ich muss warten, bis ich zweimal geimpft bin."

"Hoffentlic­h ist es bald rum", sagt auch Jörg Jacobs. Er möchte wieder zusammen mit anderen in die Stadt ins Café oder mit seiner Familie essen gehen. Gerne würde er auch wieder verreisen. 2019 war er mit einer Gruppe auf Mallorca.

Die Zweitimpfu­ng für den Großteil der Bewohner ist für Ende Mai geplant. Wenn zwei Wochen nach der letzten Impfung endlich alle als vollständi­g geimpft gelten, dann kann sich auch für sie das Leben wieder normalisie­ren. Darauf hoffen jetzt alle.

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Fürs Foto mal kurz ohne Corona-Schutzmask­e: Stefan Jung, Michaela Iltis, Rolf-Dieter Bärz und Rita Wingender (v.l.n.r.) wohnen in Montabaur im Haus am Quendelber­g für Menschen mit Behinderun­gen
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Nur beim gemeinsame­n Essen begegnen sich die Mitglieder einer Wohngruppe noch ohne FFP2-Maske

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