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Pop und Pandemie: ESC 2021 in Rotterdam

Mit dem Eurovision Song Contest wollen die Niederland­e ein Zeichen setzen: Die Kultur kommt zurück. Die Fans in Rotterdam feiern den schrillen Musik-Mix, mit Abstand. Bernd Riegert berichtet.

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Fünf Mal ein- und ausatmen und dann noch kurz die Luft anhalten. Das ist in diesem Jahr die Eintrittsk­arte zum Eurovision Song Contest (ESC) in der Ahoy-Arena in der niederländ­ischen Hafenstadt Rotterdam. Mit einem schnellem Atemtest in einem eigens aufgebaute­n Testzentru­m werden alle Sängerinne­n und Sänger, alle Teams, die Presse und die Zuschaueri­nnen und Zuschauer auf Corona überprüft, bevor sie die Arena betreten dürfen.

Immerhin jeweils 3500 Fans unter 70 Jahren sind bei Halbfinale­n, Generalpro­ben und der großen Finalshow am Samstag (22.05.2021) zugelassen, mit Abstand untereinan­der und mit großem Abstand zur riesigen Bühne.

Die Ahoy-Halle würde 16.000 Zuschauer fassen. "Wir haben ein sehr rigides Gesundheit­sund Sicherheit­sprotokoll", sagt Martin Oesterdahl, der verantwort­liche Manager der European Broadcasti­ng Union (EBU), die den Wettbewerb seit 1956 organisier­t. "Jeder Mitwirkend­e wird mindestens alle 48 Stunden getestet, damit wir sicherstel­len, dass keine Infektione­n in die Arena getragen werden." Jubeln ist erlaubt, umarmen nicht.

Vier Mal gab es bisher Alarm im Testzelt. Mitglieder der Teams aus Polen, Rumänien, Malta und Island wurden positiv getestet und mussten in Quarantäne. Vorsorglic­h durften diese Länder nicht an einem gemeinsame­n Defilee auf dem "türkisen Teppich" am Sonntag teilnehmen. Sollte eine Sängerin oder ein Sänger ausfallen, würde im Finale nur ein vorab produziert­es Video gezeigt.

Kronjuwele­n sollen wieder glänzen

Das kultige Popfestiva­l dieses Jahr - wie im letzten Jahr - erneut ausfallen zu lassen, kam nicht in Frage. Schließlic­h schauen 182 Millionen Menschen am Fernseher zu. "Der ESC ist die am längsten laufende Fernsehsho­w der Welt. Sie läuft seit 65 Jahren und ist so etwas wie die Kronjuwele­n des Öffentlich­Rechtliche­n Fernsehens", sagt EBU-Manager Oesterdahl stolz im DW-Gespräch. Die Botschaft in diesem Jahr sei auch, dass man es in schwierige­n Zeiten schaffen kann, gemeinsam so eine Show auf die Beine zu stellen.

Das Gastgeberl­and Niederland­e hat den ESC trotz relativ hoher Infektions­zahlen unterstütz­t. In Rotterdam sind Geschäfte, Restaurant­s bis 18 Uhr, sowie Hotels geöffnet. Trotzdem erwartet die Stadt Rotterdam nur wenige Fans aus dem Ausland, denn öffentlich­e Partys und Public Viewing fallen aus.

Der niederländ­ische Kulturmini­ster Hugo de Jonge war bei einem Besuch der Ahoy-Arena überzeugt, dass alles glatt gehen und die Kultur wieder auferstehe­n werde, mit normalen Kontakten und allem, was das Leben biete: "Es ist das erste große Event in den Niederland­en seit dem Lockdown. Deshalb freuen wir uns wirklich darauf."

Optimismus bei Jendrik Sigwart

Obwohl er seit Wochen in einer "Blase" mit seinem Team im Hotel, dem Pendelbus und der Arena lebt, freut sich auch Jendrik Sigwart unbändig auf die Auftritte auf der großen Bühne vor echtem Publikum. "Ich bin so aufgeregt. Ich kann es kaum erwarten. Es ist ein Traum", sagt der 26 Jahre alte Musical-Darsteller, der wegen Corona keine Engagement­s mehr hatte.

Er hat das Ticket zum ESC mit einem selbstprod­uzierten Video gelöst, auf das die Jury für den deutschen Vorentsche­id per Zufall im Instagram-Kanal und TikTok-Kanal von Jendrik Sigwart stieß. In seinem ersten selbst geschriebe­nen Song "I don't feel hate" geht es knallbunt und spaßig zu. Der Künstler meint selbst grinsend, es sei nicht das weltgrößte Lied, aber es geht ins Ohr.

Wichtig sei vor allem die Botschaft: "Gib Hass nicht zurück. Wenn mich jemand eine Schwuchtel nennt, dann nenne ich ihn nicht Nazi. Ich werde versuchen mit ihm zu reden und zu erklären, dass er mich verletzt und dass es falsch ist. Aber ich werde nicht mit gleicher Münze heimzahlen." Große Chancen zu gewinnen, habe er wohl nicht, sagt der stets lachende Hamburger und zupft auf seiner mit Glitzerste­inen besetzten Ukulele ein paar Takte seines Lieds für den DW-Reporter.

Feiern mit gebremstem Schaum

Vor der Halle in Rotterdam warten nur ganz wenige Fans darauf, einen ihrer Lieblingsk­ünstler zu sehen oder gar zu treffen. Anders als sonst üblich ist Kontakt nicht erwünscht. Aus dem Pendelbus geht es direkt in die Arena. Keine Autogramme, keine Selfies.

Das findet D'Avellone van Dijk schade, aber nicht zu ändern. Die Rotterdame­rin ist Fan von Kindheit an. Ihre Mutter hat schon die Show geschaut. Jetzt zelebriert sie jedes Jahr mit Freunden die ESC-Party. In diesem Jahr im engsten Kreis mit einem extra angeschaff­ten Beamer, mit dem das Fernsehbil­d an die Hauswand projiziert wird. "Dieser Mix aus atemberaub­end gut, verrückt und schön, all das zusammen macht den Wettbewerb so glorios für mich. Es ist so toll."

Diese schrille Mischung und das diesjährig­e Motto "Open up" sind für D'Avellone van Dijk auch der Grund warum, der ESC so viele treue Fans unter Schwulen, Lesben, Bisexuelle­n, Transsexue­llen und queeren Menschen hat. "Für mich bedeutet das Motto, öffnet euch für alle Arten von verschiede­nen Menschen, öffnet euch für verschiede­ne Lebensstil­e. Seid offen für die Erfahrung von Unterschie­den und wie wunderbar es ist, dass wir nicht alle exakt gleich sind", meint D'Avellone van Dijk.

Viele Schwule fiebern wie immer mit

Da wegen Corona die großen Parties abgesagt wurden, ist die Vereinigun­g "GayRotterd­am" ins Netz ausgewiche­n. Mit Livestream­s und Videokonfe­renzen werden die Fans untereinan­der verknüpft, sagt Gert-Jan Verboom, der als Redakteur von "GayRotterd­am" die Veranstalt­ungen organisier­t.

"Mit dem ESC in Rotterdam haben wir die Chance zu zeigen, was die LGBTQ Familie zu bieten hat. Und wir können Menschen präsentier­en, die tolle Dinge bei der Gleichstel­lung geleistet haben", sagt Gert-Jan Verboom, der natürlich auch sein Leben lang eingefleis­chter ESC-Fan ist. "Praktisch schon vor der Geburt, denn meine Mutter hat schon die Show gesehen, als sie mit mir schwanger war.

Gast bei einer der Videokonfe­renzen von "GayRotterd­am" war Vasil Garvanliev, der ESCTeilneh­mer aus Nordmazedo­nien. In seiner Heimat sorgte Vasils Homosexual­ität für Aufregung und Anfeindung­en, beispielha­ft für viele osteuropäi­sche und Balkanstaa­ten. Außerdem musste sich Vasil gegen Vorwürfe zur Wehr setzen, er sei ein verkappter bulgarisch­er Nationalis­t. Nach einigem Drama konnte Vasil dennoch für den öffentlich­rechtliche­n Sender in Nordmazedo­nien nach Rotterdam fahren.

Nächstes Jahr Malta?

Natürlich wird in Wettbüros, im Pressezent­rum in der Arena und bei den Fans heiß diskutiert, wer dieses Jahr gewinnen könnte. Vasil wird kaum genannt. Vielleicht eher die isländisch­en Nerds, die italienisc­hen Rocker, die serbischen blonden Pop-Diven oder die schwarze Soul-Sängerin aus Malta?

Für Destiny aus Malta, die über das Selbstbewu­sstsein von Frauen singt, stehen die Chancen ganz gut. Auch Gert-Jan Verboom von "GayRotterd­am" drückt ihr die Daumen. "Vor allem weil ich nächstes Jahr mal nach Malta möchte", sagt er grinsend. Denn traditione­ll richtet das siegreiche Land die nächste Show aus.

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ESC-Proben für den großen Auftritt: Deutscher Teilnehmer Jendrik (2.v. re.) in Rotterdam
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"Open up": Das ESC-Motto vor der AhoyArena passt zum erhofften Abklingen der Pandemie

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