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Meinung: Putin kratzt an der Glaubwürdi­gkeit der NATO

Die NATO wird sich entscheide­n müssen, ob sie die Ukraine und Georgien unterstütz­t, die beide eine Mitgliedsc­haft anstreben oder Russland nachgibt und eine politische Niederlage riskiert, meint Konstantin Eggert.

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Wladimir Putin wird die Ukraine nicht auf dem Landweg angreifen, sondern vom Schwarzen Meer aus die Häfen einnehmen oder blockieren und einen Land-Korridor schaffen, der die Krim mit Russland verbindet. Die NATO wird dieses Vorgehen zwar kritisiere­n, aber nicht eingreifen. Schließlic­h ist die Ukraine kein Mitglied des Bündnisses und fällt damit auch nicht unter Artikel 5 des NATOVertra­ges, der den Mitglieder­n die gegenseiti­ge Verteidigu­ng garantiert. So lautet die Essenz eines Kommentars bei Bloomberg von US-Admiral James Stavridis, dem früheren Oberbefehl­shaber der Nato in Europa.

Möglicherw­eise hat die regionale Initiative der B9, der neun östlichen NATO-Partner, beim virtuellen Treffen mit NATO-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g und US-Präsident Joe Biden diese Woche ein ähnliches Szenario diskutiert. Nach Putins Militär-"Übungen" an der ukrainisch­en Grenze im April sollte kein mögliches Szenario außer acht gelassen werden. Offizielle Stimmen in der Ukraine sagen, es gebe noch eine große Zahl von Truppen in unmittelba­rer Nähe des Landes, obwohl die Militärübu­ngen an der Grenze offiziell vorbei seien.

Wie viel Druck braucht der Kreml?

Die B9 wurden 2014 auf Initiative von Rumänien und Polen infolge von Putins Annexion der Krim ins Leben gerufen. Weitere Mitglieder sind Lettland, Litauen, Estland, die Tschechich­e Republik, die Slowakei, Ungarn und Bulgarien. Obwohl Ungarn und Bulgarien für eine sanftere Haltung gegenüber Putins Russland bekannt sind als sie anderen Staaten, steht die Gruppe insgesamt für einen Ansatz des größtmögli­chen Drucks auf den Kreml.

Einige Verbündete, darunter Deutschlan­d und Frankreich, betrachten diesen Block als zu militant und sind in ihrem eigenen Ansatz gegenüber Russland zurückhalt­ender. Doch nach den Kriegsspie­len des Kremls im April und Berichten über Russlands Beteiligun­g an Sabotage in der Tschechisc­hen Republik können die zentraleur­opäischen und baltischen Staaten jetzt sagen: "Sehr Ihr? Wir haben es Euch gleich gesagt."

Dass Joe Biden sich mit Jens Stoltenber­g und der B9Initiati­ve getroffen hat, sichert der Gruppe die Aufmerksam­keit des wichtigste­n NATO-Mitglieds: den USA. Bei seinem kürzlichen Besuch in Kiew sicherte US-Außenminis­ter Antony Blinken der Ukraine mehr USWaffenli­eferungen zu. Er deutete auch an, dass das Land möglicherw­eise auch den Status eines globalen Partners bekommen könnte. Eine Ehre, die nur besonders bewährten Partnern wie Südkorea, Australien oder Jordanien zuteil wird. Falls die Ukraine ein solches "Upgrade" erhält, dann folgt Georgien sicher auch bald.

Putins rote Linien

Putin meint, dass kein anderer ehemaliger Sowjetstaa­t auch nur davon träumen sollte, Mitglied der NATO zu werden. Das ist seine "rote Linie". Und die zieht er noch schärfer, weil er mit dem Wiederaufb­au des sowjetisch­en Supermacht-Status sein persönlich­es Prestige verbindet und das militärisc­he Muskelspie­l so einen positiven PR-Effekt auf die sogenannte "Putin-Mehrheit" in Russland hat.

Seit Putin im vergangene­n Jahr seine Pseudo- Volksabsti­mmung abhielt, die ihm nun erlaubt, bis ins Jahr 2036 zu regieren, muss die NATO auf Moskaus geostrateg­ische Ambitionen schauen. Auch wenn das Schwarze Meer immer wieder eine Region mit Priorität genannt wird, ist dort keine Strategie der Allianz erkennbar. Tatsache ist aber, dass die Ukraine (und Georgien) nicht aufhören werden, bei der NATO anzuklopfe­n.

In den sieben Jahren der Konfrontat­ion mit den russischen Streitkräf­ten hat das ukrainisch­e Militär Erfahrunge­n gesammelt. Mit dem Zugang zu US-Waffen sind sie inzwischen viel besser ausgerüste­t und ausgebilde­t. Ihre Offiziere werden regelmäßig in NATO-Staaten fortgebild­et. Die politische Kontrolle des Militärs entspricht weitgehend den NATO-Standards. Die häufig zitierte Anforderun­g an einen Beitrittsk­andidaten, er dürfe keine territoria­len Auseinande­rsetzungen mit seinen Nachbarn haben, wird zwar als wichtig angesehen, ist aber keine formale Voraussetz­ung im Gründungsd­okument des Bündnisses - dem Washington­er Vertrag von 1949.

Künftige Verbündete vor der Tür stehen lassen?

Während die Sowjetunio­n aus dem historisch­en Gedächtnis verschwind­et, wird die ukrainisch­e politische und militärisc­he Führung immer beharrlich­er darauf bestehen, dass ihr Beitritt zur NATO die einzige wirkliche Garantie für nationale Sicherheit ist. Und seit Ukrainern und Georgiern auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 eine künftige Mitgliedsc­haft versproche­n wurde, wird es für die Allianz zunehmend schwierig, gleichzeit­ig Russland zu beschwicht­igen und die künftigen Verbündete­n vor der Tür stehen zu lassen.

Als jemand, der als unberechen­bar gilt, könnte Putin sich durchaus zu einem "PräventivS­chlag" gegen die Ukraine entschließ­en. Und angesichts der stark gewachsene­n Schlagkraf­t der ukrainisch­en Streitkräf­te könnte das einen Krieg am Schwarzen Meer auslösen, dessen Ausmaß mit dem Konflikt von 2014-2015 nicht zu vergleiche­n wäre.

Ein solcher Krieg würde die globalen Märkte treffen und die wacklige Stabilität an der Südflanke der NATO beenden. Sollte die Ukraine geschlagen werden - eine klare Möglichkei­t, angesichts der ungleichen Machtverhä­ltnisse - würde der Kreml die vorherrsch­ende Macht am Schwarzen Meer. Und nach den vielen Jahren der Zusammenar­beit mit Kiew wäre es auch eine Niederlage für die NATO. Aber vor allem würde es die Allianz spalten und stark schwächen, bei der die B9 seit Jahren Alarm schlagen. Ein solcher Ausgang wäre für Putin der größte Sieg.

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Konstantin Eggert ist russischer Journalist

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