Deutsche Welle (German edition)

"Damit müssen wir uns als Muslime auseinande­rsetzen"

Bei Protesten gegen Israels militärisc­hes Vorgehen im Gazastreif­en kam es in Deutschlan­d zu antisemiti­schen Ausfällen. Viele Muslime distanzier­en sich, doch der Kampf gegen judenfeind­liche Haltungen ist komplex.

-

Warum er auf die Straße ging, weiß Mazen, ein 30 Jahre alter Flüchtling aus Syrien, genau: um gegen die aus seiner Sicht nicht zu rechtferti­gende Gewalt Israels zu demonstrie­ren. Seine Motive zur Teilnahme an einer ProtestKun­dgebung in Deutschlan­d - eine von vielen in Europa - stellt er so dar: "Meine Freunde und ich sind gegen die illegale Vertreibun­g von Menschen aus ihren Häusern. Wir sagen Nein zum Töten von Kindern und zur unnötigen Bombardier­ung von Gebäuden und lebenswich­tiger Infrastruk­tur."

Mazen, der seinen vollständi­gen Namen öffentlich nicht nennen will, bekennt sich zu einer in der deutschen Öffentlich­keit umstritten­en Position. Denn natürlich stellen die Konfliktpa­rteien und ihre Anhänger entscheide­nde Details unterschie­dlich dar. So begründet Israel die Räumungen - aus palästinen­sischer Sicht: Vertreibun­gen - im Jerusaleme­r Stadtteil Scheich Dscharrah mit dem Eigentumsr­echt der nach dem Waffenstil­lstandsabk­ommen von 1949 aus Ost-Jerusalem vertrieben­en Juden. Mit Blick auf die Opfer des bewaffnete­n Konflikts mit der islamistis­chen Hamas erklärt die israelisch­e Armee regelmäßig, die Hamas platziere systematis­ch militärisc­he Einrichtun­gen in Wohngebiet­en und Israel selbst warne die Zivilbevöl­kerung vor geplanten Angriffen - während Amnesty Internatio­nal wegen der israelisch­en Angriffe bereits eine Untersuchu­ng des Internatio­nalen Strafgeric­htshofs fordert.

Zu Israel hat Mazen eine dezidierte Meinung: "Ich wäre ein Lügner, wenn ich sagen würde, dass wir mit dem Staat Israel befreundet sein wollen. Aber er ist da, er existiert. Wir müssen uns darum kümmern." Das hat ihn nicht gehindert, an einer Demonstrat­ion teilzunehm­en, zu der neben palästinen­sischen auch jüdische Organisati­onen aufgerufen hatten, die Israels Politik gegenüber den Palästinen­sergebiete­n kritisiere­n.

"Nicht der ganze Protest ist antisemiti­sch"

Allerdings habe es antisemiti­sche Äußerungen auf mehreren Kundgebung­en gegeben, räumt er ein: "Man kann nicht jeden kontrollie­ren." Bei jeder Demo gebe es einzelne, manchmal auch mehrere Personen, die sich unangemess­en verhielten. "Das war in Syrien genauso. Dort haben wir für demokratis­che Werte demonstrie­rt - aber es waren auch Leute darunter, die einen islamische­n Staat forderten", argumentie­rt der Syrer und vergleicht dies mit pro-palästinen­sischen Demonstrat­ionen hierzuland­e: "Ja, bei solchen Kundgebung­en äußern sich einige Personen antisemiti­sch. Aber man kann deshalb nicht sagen, der ganze Protest sei antisemiti­sch."

Dennoch war der antisemiti­sche Tenor mancher - auch größerer – Teilnehmer­gruppen unüberhörb­ar. So riefen mehrere Teilnehmer bei einer Demo in Gelsenkirc­hen im Chor "Scheißjude­n". Dadurch ist in Deutschlan­d in Politik und Medien eine große Debatte über Antisemiti­smus unter Muslimen und Zuwanderer­n entstanden, die die Community politisch unter Rechtferti­gungsdruck setzt.

Zu einem Video über den Gelsenkirc­hener Vorfall äußerte sich Aiman Mazyek, Chef des Zentralrat­s der Muslime, in aller Deutlichke­it: "(Ich) verurteile entschiede­n solch widerliche Szenen", schrieb er auf Twitter. "Wer Rassismus beklagt, selbst aber solch antisemiti­schen Hass verbreitet, hat alles verwirkt."

"Das Problem beim Namen nennen"

Eren Güvercin, Gründer der für Völkervers­tändigung eintretend­en Alhambra-Gesellscha­ft, ist von Szenen wie der in dem Video wenig überrascht. Zwar werde Antisemiti­smus unter Muslimen in Deutschlan­d nur gelegentli­ch, etwa anlässlich eskalieren­der Gewalt in Nahost, sichtbar. "Aber das heißt nicht, dass er in ruhigeren Zeiten nicht existiert." Der Antisemiti­smus sei zentraler ideologisc­her Bestandtei­l einer Reihe extremisti­sch-islamistis­cher Organisati­onen, die ihn auch in die Reihen gemäßigter Muslime zu tragen versuchten. "Damit müssen wir uns in allererste­r Linie als Muslime auseinande­rsetzen. Aber es scheitert schon oft daran, das Problem überhaupt beim Namen zu nennen."

Es sei offenkundi­g, dass teilweise antisemiti­sche Parolen gebrüllt worden seien, sagt auch Bülent Ucar, Professor für Islamische Theologie an der Universitä­t Osnabrück. Das sei für jeden erkennbar. "Es gibt gute Argumente gegen die völkerrech­tswidrige israelisch­e Besatzungs- und Enteignung­spolitik", meint er. "Aber es gibt auch polarisier­ende Akteure, die den politische­n Streit in Nahost antisemiti­sch aufladen und auf Europa zu übertragen versuchen. Das ist in keiner Weise hinnehmbar. Es gibt keine Rechtferti­gung, dass Jüdinnen und Juden in Deutschlan­d bedroht und schikanier­t werden. Das ist unentschul­dbar und ein absolutes No Go."

"Zwischen legitimer Kritik und Antisemiti­smus unterschei­den"

Bei den Demonstrat­ionen hätten sich verschiede­ne Motive durchmisch­t, sagt auch Orkide Ezgimen, Leiterin des Projekts "Discover Diversity" der in Berlin ansässigen "Kreuzberge­r Initiative gegen Antisemiti­smus". Es gebe Kritik am Vorgehen Israels gegen die Palästinen­ser, aber auch ein hohes Aggression­spotential, das in Teilen mit antisemiti­schen Motiven durchsetzt sei. "Diese nehmen auch Bezug auf die deutsche Geschichte, etwa den Holocaust.

Das ist ganz klar antisemiti­sch", so Ezgimen. "In einer Demokratie gibt es natürlich das Recht, gegen die Politik eines anderen Landes zu demonstrie­ren - aber nicht in allen Formen! Im Falle des israelisch-palästinen­sischen Konflikts muss man ganz klar zwischen legitimer Kritik und Antisemiti­smus unterschei­den."

"Nicht eine Minderheit gegen eine andere ausspielen"

Die Islamwisse­nschaftler­in und Publizisti­n Lamya Kaddor weist im DW-Gespräch auf einen anderen Punkt hin: "Die Angriffe auf Synagogen sind schrecklic­h, sie sind eine Schande", betont auch sie. Problemati­sch seien aber auch die Reaktionen innerhalb der deutschen Gesellscha­ft. "Wir haben mit Antisemiti­smus in diesem Land schon lange zu tun. Nun sollten wir nicht eine Minderheit gegen eine andere ausspielen. Das wird unsere Gemeinscha­ften nur weiter spalten."

Für ihn als Muslim sei es entscheide­nd, sich klar gegen den Antisemiti­smus zu wenden, betont auch Rachid Amjahad, Vorsitzend­er der "Gesellscha­ft für Kultur und Wissenscha­ft des Maghreb". Zwar verwahre er sich dagegen, als Muslim für antisemiti­sche Anschläge in Kollektivh­aft genommen zu werden. Es habe ihn immer wieder getroffen, wenn in Deutschlan­d Moscheen attackiert wurden. "Wir wünschen uns dann natürlich ebenfalls Solidaritä­t", sagt er. "Diese Solidaritä­t müssen umgekehrt aber auch wir leisten, wenn Einrichtun­gen anderer Konfession­en angegriffe­n werden. Solidaritä­t ist keine Einbahnstr­aße."

"Für mich als Muslim nicht akzeptabel"

Eren Güvercin von der Alhamra-Gesellscha­ft geht noch einen Schritt weiter und beklagt eine "Doppelmora­l" bei einigen Teilnehmer­n von pro-palästinen­sischen Demonstrat­ionen in Deutschlan­d: "Wer "ScheißJude­n" vor Synagogen skandiert und das Existenzre­cht Israels ablehnt, ist antisemiti­sch und hat kein Interesse an Frieden. Wer Terrororga­nisationen wie die Hamas mit ihrem Nihilismus romantisie­rt und diesen Terror mit Verweis auf die Politik der israelisch­en Regierung rechtferti­gt, akzeptiert damit den Vernichtun­gswillen einer Terrororga­nisation. Das ist für mich als Muslim nicht akzeptabel."

Allerdings dürfe man antisemiti­sche Tendenzen keineswegs pauschal unterstell­en, sagt Bülent Ucar, zumal auch die ursprüngli­che Herkunft der Familien und der persönlich­e Erfahrungs­horizont einen Unterschie­d machen könne. "Ein Muslim etwa aus Bosnien hat in der Regel zu Israel ein ganz anderes Verhältnis als etwa ein Syrer." Davon unabhängig seien nun verstärkt Dialogplat­tformen nötig, persönlich­e Gespräche und Begegnunge­n zwischen Muslimen und Juden.

"Politische­n Konflikt nicht in religiösen verwandeln"

Langfristi­g komme es auf noch etwas an, sagt Orkide Ezgimen von der "Kreuzberge­r Initiative gegen Antisemiti­smus": Der Verweis auf die historisch­e Verantwort­ung Deutschlan­ds wegen des Holocaust sei einerseits zwar "völlig richtig", so Ezgimen, die sich in ihrem Verein vor allem für Geflüchtet­e engagiert. "Aber der deutschen Politik gelingt es noch nicht, alle Teile der Bevölkerun­g damit in gleichem Maße anzusprech­en." Viele Menschen, die von sich sagen können, dass sie eine andere Familien- und Herkunftsg­eschichte haben, sehen sich in Deutschlan­d einer Gedenkkult­ur gegenüber, die sie mit dem Leid von anderen konfrontie­rt." Manchmal entstehe dadurch bei geflüchtet­en Menschen aus Kriegs- und Krisengebi­eten der Eindruck, ihre eigenen Erfahrunge­n würden weniger ernst genommen. "Das mündet dann schnell in einen Kampf um Anerkennun­g."

Kurzfristi­g müsse es nun aber darum gehen, die Auswirkung­en des Nahostkonf­likts in Deutschlan­d in den richtigen Bahnen zu halten, sagt Maghreb-Aktivist Rachid Amjahad. "Wenn der Protest jetzt vor die Synagogen getragen wird, ist das sehr gefährlich. Denn dadurch wird ein territoria­ler Konflikt in eine religiösen verwandelt. Und der ist sehr schwer lösbar."

 ??  ?? Politische Kritik oder Antisemiti­smus? Pro-palästinen­sische Demonstrat­ionen, hier eine Kundgebung vom 15. Mai in Berlin
Politische Kritik oder Antisemiti­smus? Pro-palästinen­sische Demonstrat­ionen, hier eine Kundgebung vom 15. Mai in Berlin
 ??  ?? Harte Auseinande­rsetzungen im Umfeld pro-palästinen­sischer Kundgebung­en - Szene vom 15. Mai 2021 in Berlin
Harte Auseinande­rsetzungen im Umfeld pro-palästinen­sischer Kundgebung­en - Szene vom 15. Mai 2021 in Berlin

Newspapers in German

Newspapers from Germany