Deutsche Welle (German edition)

"Entschuldi­gen Sie diesen Judenhass nicht!"

Eine Welle gewaltsame­r Übergriffe auf jüdische Einrichtun­gen und Symbole in Deutschlan­d sorgt für Empörung. Der prominente­ste jüdische Vertreter des Landes ruft um Hilfe.

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"Es reicht! Schauen Sie nicht weg! Entschuldi­gen Sie diesen Judenhass nicht, der sich gerade entlädt!" Josef Schuster, der Präsident des Zentralrat­s der Juden, ist kurzfristi­g der Einladung von FDP-Chef Christian Lindner gefolgt, beim digitalen Bundespart­eitag der FDP per Live-Schalte ein Grußwort zu sprechen. Wenn Grußworte sonst eher dahinpläts­chern und auch mal langweilen können, so wird Schusters kurzer Beitrag zum angstvolle­n, aufgewühlt­en Appell.

Deutschlan­d und der Judenhass … In diesen Tagen bekommt eine lange und grausige Geschichte eine Fortsetzun­g. Als Raketen aus Gaza am Mittwochab­end auf Vororte von Tel Aviv flogen und israelisch­e Vergeltung­sschläge den dichtbesie­delten Gazastreif­en trafen, brannten vor mehreren deutschen Synagogen israelisch­e Fahnen. Und in Gelsenkirc­hen rief ein Mob: "Scheißjude­n". Polizisten sicherten dort das jüdische Gebetshaus, stoppten die Demonstran­ten mit ihren antisemiti­schen Parolen aber nicht. Und Juden in Deutschlan­d sind in Angst.

"Fundamente der Demokratie"

Selbst wenn jemand die israelisch­e Regierungs­politik kritisch sehe oder für gänzlich falsch halte, rechtferti­ge das weder einen "Dauer-Raketenbes­chuss auf die israelisch­e Zivilbevöl­kerung" noch "den puren Antisemiti­smus auf deutschen Straßen", mahnt Schuster. Und er ruft die Liberalen auf, "aufzustehe­n gegen Judenhass bei Corona-Leugner-Demos, aufzustehe­n gegen Judenhass bei AntiIsrael-Demos. Und aufzustehe­n gegen all die Spalter, die Extremiste­n, die Radikalen, die an den Fundamente­n unserer Demokratie sägen."

Eigentlich stand als MedienTerm­in an diesem Freitag ein Auftritt Schusters beim digitalen Ökumenisch­en Kirchentag in Frankfurt am Main auf dem Programm. Dabei wäre es ohne die Eskalation der vergangene­n Tage geblieben. Das Gespräch beim Kirchentag wurde bereits am Mittwoch aufgezeich­net, also zwei Tage vor Ausstrahlu­ng. Damit gab es also keinen Bezug auf die aktuellen Bilder aus dem Gaza-Streifen, aus israelisch­en Städten wie Aschkelon oder Lod oder auch aus Gelsenkirc­hen. Und doch machte der zeitliche Abstand vieles deutlicher.

24 Stunden Polizeisch­utz

Frankfurts Oberbürger­meister Peter Feldmann (SPD), selbst jüdischen Glaubens, begrüßte zum Kirchentag­sgespräch aus der "sicherlich jüdischste­n Stadt Deutschlan­ds". Aber auch diese Stadt sei "keine Insel der Glückselig­en". Auch hier zeige sich antisemiti­sches Gedankengu­t, werde "das Menschheit­sverbreche­n der Schoah relativier­t", müssten Polizisten 24 Stunden am Tag die Westend-Synagoge beschützen. Es gebe einen "Antisemiti­smus in der Mitte" der Stadt, es gebe "aber auch das Gegenteil", Stolz auf Vielfalt, Liberalism­us und freien Geist.

Denn in großer Sorge äußerte sich Schuster bereits beim Kirchentag­sforum – mit Blick auf Corona-Leugner und "Querdenker". Da berichtete er, dass Corona-Leugner am vergangene­n Wochenende in Berlin eine Demonstrat­ion gegen die behördlich­en Auflagen im Kampf gegen die Pandemie angemeldet hätten – "vor dem Sitz des Zentralrat­s der Juden in Berlin". Die Demo fand dort schlussend­lich nicht statt. Aber das Vorhaben war für Schuster das beste Beispiel dafür, wie antisemiti­sche Strömungen bei Corona-Leugnern mitströmen. Es gebe "gefährlich­e gesellscha­ftliche Verwerfung­en".

Kritik am kirchliche­n Blick

Und Schuster blickte auch in diesem Rahmen auf die Bewertung aus Deutschlan­d auf Israel. Er wünsche sich "mehr Sensibilit­ät bei der Beurteilun­g der Lage in Israel". Dazu gehöre mehr Sensibilit­ät und Zurückhalt­ung auch in kirchliche­n Kreisen. "Viele Urteile fallen zu schnell und mit zu wenig Sachkenntn­is. Stattdesse­n basieren sie auf Vorurteile­n." Das klang offen und ehrlich.

Europaweit sei die Situation "leider ähnlich wie in Deutschlan­d", erläuterte Katharina von Schnurbein, Antisemiti­smusBeauft­ragte der Europäisch­en Union. Dabei sei Antisemiti­smus kein Problem der Juden, sondern der Antisemite­n. Und es sei "ein Problem gegenüber den Juden, aber letztlich gegenüber uns allen".

Ruf nach Solidaritä­t

Zwei Tage nach diesem Gespräch erinnert Schuster bei der FDP an die Demonstrat­ion gegen Antisemiti­smus mit knapp 5000 Menschen am Brandenbur­ger Tor im September 2014. Damals hatte es zuvor gleichfall­s mehrere antisemiti­sche Übergriffe gegeben. Und - auch daran erinnert Schuster - es war der Zentralrat selbst, der vor sieben Jahren zur Demo "aufrufen musste. Denn von breiter Solidaritä­t war leider wenig zu spüren."

"Wo sind die Menschen, die solidarisc­h sind? Wo sind die Menschen, die für Respekt werben?", frage Schuster. Nach wie vor fänden sich in den sozialen Medien alle paar Stunden neue Hinweise für judenfeind­liche Übergriffe. Mal wurde über Nacht eine israelisch­e Fahne entwendet, mal wurde ein Jude, erkennbar am Davidsster­n seiner Halskette, bespuckt.

Gäste in der Synagoge

Am Freitagabe­nd fand in der Chabad-Gemeinde in Berlin-Wilmersdor­f ein "Solidaritä­tsgottesdi­enst anlässlich des anhaltende­n Raketenter­rors der Hamas" statt. "Wir stehen gemeinsam an der Seite Israels! Wir beten für die Sicherheit und den Frieden in Israel", bekräftigt­e Rabbiner Yehuda Teichtal, Gemeindera­bbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Er hatte unter anderen Israels Botschafte­r Jeremy Issacharof­f, Bundesjust­izminister­in Christine Lambrecht, Kultur- Staatsmini­sterin Monika Grütters und Grünen-Kanzlerkan­didatin Annalena Baerbock zu der Feier eingeladen.

Eine Mahnwache gab es auch an der Synagoge in Gelsenkirc­hen. Und in Würzburg steht am Sonntag eine Kundgebung der Deutsch-Israelisch­en Gesellscha­ft an.

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Josef Schuster, Präsident des Zentralrat­s der Juden, beim Ökumenisch­en Kirchentag
 ??  ?? Das jüdische Gotteshaus in Gelsenkirc­hen.
Das jüdische Gotteshaus in Gelsenkirc­hen.

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