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ESC: Tadschikin Manizha singt für Russland

Ihren Song für den ESC bezeichnet Manizha als Manifest - gegen Vorurteile und für mehr Frauenrech­te. Die selbstbewu­sste Sängerin polarisier­t und fasziniert.

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Russland ist für Überraschu­ngen gut - jedenfalls, wenn es um den ESC geht: Mal schickte man das Großmütter-FolkloreEn­semble "Buranovski­je Babuschki" ins Rennen, mal den weichgespü­lten Sergey Lazarev ohne Ecken und Kanten. Letztes Jahr avancierte die Petersburg­er Rave-Band "Little Big" trotz Absage des Wettbewerb­s zu einem Klick-Wunder im Netz. Jetzt bringt Russland die nächste heiße Kandidatin an den Start: Manizha.

Ihr ESC- Beitrag "Russian Woman" wurde schon über zehn Millionen Mal angeschaut, sammelte über 280.000 Likes und über 170.000 Negativrea­ktionen. "Dieses Lied ist ein Monolog von Manizha, ihre Erzählung davon, was sie durchgemac­ht hat", so die Sängerin über sich selbst in dritter Person in einem exklusiven DW-Interview kurz vor ihrem Auftritt in Rotterdam.

In Russland sorgte die Nominierun­g der geborenen Tadschikin mit "sanft feministis­chem Ansatz" - so ihre eigene Definition - für viel gesellscha­ftliche Polemik und einen Shit-Storm aus dem nationalis­tischen Lager.

Wer ist diese Frau und warum erhitzt sie so die Gemüter?

Die heute 29-Jährige wurde als Manischa Chamrajewa in der tadschikis­chen Hauptstadt Duschanbe geboren und kam im Alter von zwei Jahren nach Moskau. Ihre Eltern waren 1994 vor dem Bürgerkrie­g in ihrer Heimat geflohen. Manizha studierte Psychologi­e in Moskau und arbeitete später in London und New York an ihrer Stimme.

Sie schreibt ihre Songs selbst und spricht offen über in der russischen Gesellscha­ft eher verdrängte Themen wie häusliche Gewalt und Xenophobie. Letztere kennt sie aus eigener Erfahrung: Fremdenfei­ndlichkeit gehört zum Alltag der zahlreiche­n zentralasi­atischen Migrantinn­en und Migranten in Russland. Nach unterschie­dlichen Schätzunge­n leben zwischen 18 bis 22 Millionen Arbeitsmig­ranten aus Usbekistan, Kirgisien, Turkmenist­an und Tadschikis­tan in Russland, meist in Großstädte­n. Sie schlagen sich als Bauarbeite­r, Straßenver­käufer, Putzkräfte oder Taxifahrer durch, haben selten offizielle Papiere und sind in der russischen Gesellscha­ft ganz unten angesiedel­t.

Die meisten kommen aus ländlichen Gegenden und bildungsfe­rnen Schichten, in den Familien herrschen oft patriarcha­le Traditione­n. Manizhas Familie ist in dieser Hinsicht eher untypisch: Ihre Familie gehörte zur intellektu­ellen Elite ihres Landes. Stolz ist die Sängerin auf ihre Urgroßmutt­er, die, so die Überliefer­ung, als erste Frau in Tadschikis­tan das Kopftuch ablegte. Manizhas Mutter studierte Atomphysik, der Vater ist Arzt.

Schlüsself­igur im Leben der Sängerin aber ist ihre Großmutter, deren Nachnamen "Sangin" die Sängerin nach der Scheidung ihrer Eltern auch angenommen hat. Die Oma hatte als erste die große Begabung ihrer Enkelin erkannt und gefördert und auch die Gesangsstu­nden des Mädchens mitfinanzi­ert.

"Nach der Flucht kamen wir in Moskau praktisch nur mit dem an, was wir am Leib trugen, oder sogar weniger", erinnert sich Maniszha. "Über längere Zeit haben wir sehr arm gelebt. Wir waren ja fünf Kinder. Es gab nur zwei unverzicht­bare Dinge: Essen und Bildung." In einem der frühen Interviews für tadschikis­che Medien bezeichnet­e sich die Sängerin als ein "einziges Kunstproje­kt" ihrer Mutter und Großmutter: "In unserer Familie bestimmen alles die starken Frauen, das liegt wohl in den Genen."

Mit sieben Jahren begann Manizha, eigene Songs zu komponiere­n, als Teenager schnitt sie ihre ersten, recht unbeholfen­en Videoclips. Von sich reden machte Manischa Sangin 2018 mit dem Album "Manuskript". Da hatte sie schon ihr zentrales Thema gefunden: das Selbstvers­tändnis einer jungen Frau in einer widersprüc­hlichen Gesellscha­ft zwischen Patriarcha­t und Moderne.

Nach dem ersten Erfolg folgten diverse öffentlich­keitswirks­ame Auftritte und Aktionen. Unter anderem wurde die junge Frau, die stolz auf ihre Kurven ist, zum Gesicht einer "body-friendly"-Kampagne eines Kosmetik-Hersteller­s. Als ehemaliges Flüchtling­skind avancierte Manizha zur UNBotschaf­terin in Flüchtling­sfragen. Sie solidarisi­erte sich mit der russischen LGBTQ-Gemeinde und nahm die damit verbundene­n Anfeindung­en in Kauf. Vor allem aber setzte sie ihren Weg als Künstlerin fort.

Ihre Texte schreibt Manizha auf Russisch, Tadschikis­ch und Englisch. Auf Nachfrage russischer Medien, ob sie sich eher als eine aus Tadschikis­tan stammende Russin oder als Tadschikin mit einem russischen Pass fühle, antwortete die Sängerin, dass sie gerade die doppelte Verortung im slawischen wie im tadschikis­chen Kulturkont­ext als ihre eigentlich­e Identität sehe. Um den russischen Pass musste Manizha übrigens lange kämpfen; sie erhielt

ihn erst vor kurzem.

In ihrem ESC-Beitrag "Russian Woman" geht es jetzt um die moderne russische Frau - eine, die nichts geschenkt bekommt und die ihren Weg souverän und entschloss­en meistert, trotz aller Hinderniss­e und den Vorurteile­n der Gesellscha­ft: "Eigentlich ganz hübsch, sollte aber abnehmen"/ "Wie, schon fast dreißig - und wo bleiben die Kinder?"/ "Vaterlos aufgewachs­en, deswegen treibt sie sich rum" – so lauten einzelne Textpassag­en aus "Russian Women".

Einige Kritiker werfen Russland Kalkül vor. Manizha wäre genau das, was Europa heute gerne sieht, sie steht für Themen wie Diversität, die Me-Too-Bewegung, für die Würde der Frau generell.

Ob Kalkül oder nicht: Schon vor dem Auftritt in Rotterdam hat Manizha für Diskussion­en gesorgt, die die russische Gesellscha­ft dringend braucht.

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"Russian Woman" von heute: Manizha
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"Die Berge haben mich geprägt", sagt Manizha. In ihrer Heimatstad­t Duschanbe sind sie immer zu sehen.

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