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NS-Zeit: Ein Familienge­heimnis um zwei jüdische Künstlerin­nen

Nach 40 Jahren Recherche stieß Katharina Feil auf ihre Urgroßtant­en Sophie und Betty Wolff: zwei Künstlerin­nen der Berliner Secession mit jüdischen Wurzeln. Stolperste­ine erinnern jetzt an sie.

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Als Kind erfuhr Katharina Feil nichts über die jüdische Geschichte ihrer Familie. Ihre Eltern sprachen nicht über den Zweite Weltkrieg. Das Thema war tabu wie so oft in Deutschlan­d.

Als sie 1978, im Alter von 18 Jahren, als Au-pair in Boston arbeitete, besuchte sie in Harvard einen Vortrag des Holocaust-Überlebend­en Erich Goldhagen. Feils erste Begegnung mit einem Shoa-Zeitzeugen hatte weitreiche­nde Folgen: Sie begann, Informatio­nen über die Nazizeit in Deutschlan­d zu sammeln. Und sie entschied sich, Judaistik zu studieren. Ihre Mutter schien nicht begeistert von ihrem Vorhaben. "Warum machst du das?", wurde sie gefragt. Ohne von ihren jüdischen Wurzeln zu wissen, reiste Feil auch im Rahmen ihres Studiums nach Israel, was ihre Mutter wiederum beunruhigt­e. "Sie hatte diese für mich völlig irrational­e Annahme, dass ich konvertier­en würde", wunderte sich Feil.

Feils Mutter wollte im Bund Deutscher Mädel aufsteigen

Dieses anfänglich diffuse Interesse wurde zu einer Faszinatio­n. Auch ihre Mutter ließ sich nun vermehrt auf Gespräche ein und machte Andeutunge­n zur Familienge­schichte. Sie offenbarte ihrer Tochter, dass sie Mitglied im Bund Deutscher Mädel (BDM) gewesen sei und dort eine führende Rolle anstrebte - doch dies aus ungenannte­n Gründen "nicht konnte".

"Sie wollte reden, aber sobald ich neugierig wurde und mehr wissen wollte, hat sie irgendwie dicht gemacht", sagt sie. Aber die Türe zur geheimnisv­ollen Familienge­schichte war bereits einen Spalt weit offen. Und so begann eine Mission, die ihr

Bruder Julian Jahrzehnte später als ihr "Lebenswerk" bezeichnen würde.

Familie mit jüdischen Wurzeln

Eines Tages offenbarte Feils Mutter ihrer Tochter, dass ihr UrGroßvate­r Jude war. Ihre Mutter, die lutherisch getauft worden war, hatte als Kind davon nichts gewusst. Es wurde ihr erst mitgeteilt, als sie versuchte, im BDM eine Führungsro­lle zu übernehmen. Dafür musste sie nachweisen, dass sie "arisch" war.

Aufgrund der jüdischen Wurzeln ihres Vaters konnte Feils Mutter diesen Nachweis nicht erbringen, und zu diesem Zeitpunkt stand sie bereits so sehr in der Öffentlich­keit, dass ihre Mutter befürchtet­e, jemand könnte herausfind­en, dass sie keine "arische" Deutsche war. Die Familie beschloss daher, sie in ein Internat in Ostdeutsch­land zu schicken. "Meine Großmutter schien genau zu wissen, wen sie anrufen musste", erzählt Katharina Feil. Diese Verbindung­en boten ihrer Mutter Schutz vor den Nazis.

Nachdem sie jahrelang Andeutunge­n über ihre Vergangenh­eit gemacht, aber nie alles preisgegeb­en hatte, gab Katharina Feils Mutter ihrer Tochter die Geburtsurk­unden zweier Urgroßtant­en, von denen Feil noch nie etwas gehört hatte: Betty und Sophie Wolff. Zwei Künstlerin­nen, die 1941 und 1944 in Berlin verstarben.

Künstleris­che Wegbereite­rinnen

Feil fand heraus, dass ihre Urgroßtant­en, über die in ihrer Familie nie gesprochen wurde, zwei bedeutende Künstlerin­nen der Berliner Secession waren - und das zu einer Zeit, als Frauen noch keine Kunsthochs­chulen besuchen durften.

Betty Wolff war als Malerin Autodidakt­in. Ihre Schwester Sophie wurde vor allem als Bildhaueri­n bekannt. Ihre Lebensläuf­e waren schlecht dokumentie­rt. Feil fand heraus, dass sie genauso zu den Nachfahren Heinrich Heines Kontakte hatten wie zu Auguste Rodin. Und so hatte Feil genügend Anhaltspun­kte, um sich ein Bild von ihrem Leben zu machen.

Die Bildhaueri­n Sophie Wolff

Auf Sophie Wolffs Namen stieß sie in den Tagebücher­n von Käthe Kollwitz, deren Grafiken und Skulpturen heute unter anderem im Käthe-Kollwitz-Museum Berlin und Köln zu sehen sind. Sie berichtete etwa von einem gemeinsame­n Besuch bei Auguste Rodin in dessen Pariser Atelier. In Kollwitz' Tagebuch ist zu lesen, dass Sophie Wolff "sehr gute Erfolge bei den Pariser Ausstellun­gen der 'Salon des Independan­ts'" hatte.

"Kurz vor Ausbruch des Weltkriege­s kam sie nach Deutschlan­d zurück und blieb hier, sehr zu ihrem Nachteil", fuhr Kollwitz fort. Es glückte ihr nicht, in Berlin eine annähernd so gute Position zu finden wie in Paris. So hat sie es leider nicht zu der Anerkennun­g gebracht, die ihre sehr guten plastische­n und zeichneris­chen Arbeiten verdienten."

Erst 2018 entdeckte das Kolbe-Museums in Berlin die Bildhaueri­n wieder und zeigte ihre Skulpturen 2018 in einer Ausstellun­g, eine Hommage an die wenig bekannte weibliche Seite der Berliner Secession.

So kam es, dass sich nicht nur Katharina Feil um die Verlegung eines Stolperste­ins (im Boden verlegte Gedenktafe­l, Anm. d. Red.) für Sophie Wolff bemühte, sondern auch das Kolbe-Museum, das bereits einen Antrag gestellt hatte.

Die Malerin Betty Wolff

Betty Wolff, die ältere der beiden Schwestern, malte Porträts. Sie nahm Unterricht bei Karl Stauffer-Bern, einem Schweizer Porträtist­en, der damals auch Kollwitz und andere prominente angehende Künstlerin­nen an der Mal- und Zeichensch­ule des Münchner Künstlerin­nenvereins­unterricht­ete.

Erst vor wenigen Monaten erfuhr Feil, dass ein Gemälde ihrer Urgroßtant­e von Adelheid Bleichröde­r, Nachfahrin von Gerson von Bleichröde­r, der einst mit Otto von Bismarck zusammenge­arbeitet hatte und einer der prominente­sten Juden in Berlin war, dem Jüdischen Museum Berlin geschenkt worden war.

Tragisches Schicksal der Wolff-Schwestern

Beide Urgroßtant­en waren gut vernetzt und gehörten vor Kriegsbegi­nn einer Reihe von Künstlerkr­eisen in Berlin an, wie etwa dem Verein der Berliner Künstlerin­nen oder dem Lyzeum-Club. 1933 mussten Sophie und Betty Wolff aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln die Vereinigun­gen verlassen.

Nach 1945, so Josephine Gabler, Direktorin des KätheKollw­itz-Museums in Berlin, kümmerte sich niemand darum, das Werk jüdischer Künstlerin­nen der ersten Jahrhunder­thälfte

zu erhalten. Jahrzehnte­lang waren ihr Leben und ihre Arbeit weitgehend vergessen. Erst in den 1990er-Jahren begannen einige Forschende, sich mit ihrem Erbe zu befassen, so Gabler. Aber das war fast ein halbes Jahrhunder­t später. Beide Urgroßtant­en von Katharina Feil starben während des Krieges.

Eine Kultur des Schweigens

Während Katharina Feil immer weiter forschte, begann sie zu verstehen, warum ihre Familienge­schichte - so glanzvoll einige der Leistungen ihrer Urgroßtant­en auch waren tabuisiert wurde. "Das Schweigen, mit dem meine Generation aufgewachs­en ist, war, so wie ich es heute verstehe, eine Überlebens­technik", sagte sie anlässlich der Zeremonie Ende Mai in Berlin, als die Stolperste­ine zu Ehren ihrer Tanten verlegt wurden. "Schweigen garantiert­e unsere Sicherheit während der Nazizeit. Später war das Schweigen ein Zeichen von Schuld. Einige Familienmi­tglieder haben das faschistis­che System relativ unbeschade­t überstande­n, indem sie die Sicherheit­skräfte bestachen. Andere haben offensicht­lich sehr gelitten." Das raubte Feils Familie jeglichen Stolz auf ihre Abstammung.

Katharina Feils Recherchen über das Leben ihrer vergessene­n Urgroßtant­en und die Stolperste­ine mit ihren Namen, die nun dauerhaft im Berliner Straßenpfl­aster verankert sind, sorgen dafür, dass Betty und Sophie Wolffs Erbe nicht länger vergessen bleibt.

Adaption aus dem Englischen von Bettina Baumann.

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Jahrzehnte­lang erforschte Katharina Feil ihre Familienge­schichte - mit Erfolg
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Die Reise nach Jerusalem löste bei Katharina Feils Mutter Unbehagen aus
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