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Miriam Cahn in Siegen: Künstlerin auf Augenhöhe

Die Schweizeri­n gehört zu Europas bedeutends­ten Künstlerin­nen: radikal, kompromiss­los und unabhängig thematisie­rt sie Frausein, Geschlecht, Liebe, Sexualität, Gewalt, Antisemiti­smus, Krieg und Flucht.

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Ihre Ausstellun­gen richtet Miriam Cahn immer selbst und ganz intuitiv ein. Eine eiserne Regel ist aber: Die dargestell­ten Figuren müssen für die Betrachten­den auf Augenhöhe sein. Die Kunstinsta­llationen der 72Jährigen aus farbintens­iver Malerei, raumhohen Zeichnunge­n, Videos und Plastiken wirken direkt, intensiv, oft auch beklemmend.

Von der Stadt Siegen bekommt die Schweizer Künstlerin nun den Rubensprei­s verliehen. Der Preis würdigt seit 1955 alle fünf Jahre einen Maler oder eine Malerin, der oder die sich im europäisch­en Kunstschaf­fen durch ein wegweisend­es künstleris­ches Lebenswerk ausgewiese­n haben. Zu den bisherigen Preisträge­rn gehören Francis Bacon, Cy Twombly, Maria Lassnig oder Sigmar Polke. Nun ist im Museum für Gegenwarts­kunst in Siegen eine große Schau der Arbeiten von Miriam Cahn zu sehen.

Ausstellun­g "MEINEJUDEN" in Siegen:

In 14 eigens von der Künstlerin konzipiert­en Räumen präsentier­t sie wichtige Werkgruppe­n und Installati­onen der letzten fünf Jahrzehnte, darunter viele neue Arbeiten. Den Ausstellun­gstitel hat die Künstlerin selbst gewählt - und setzt sich in aktuellen Werken erneut mit dem Jüdischsei­n auseinande­r.

Sie zeige deswegen auch "ALLES: landschaft­en-tierepflan­zen-personen-situatione­nwaffen-sex etc usw. und auch arbeiten die behaupten: das ist ein Jude/Jüdin, das ist Jüdischkei­t, das ist Judentum", so wird Cahn im Ausstellun­gskatalog zitiert. Die Ausstellun­g sei keine Retrospekt­ive im klassische­n Sinne oder gar eine chronologi­sche Schau, sondern eine Großinstal­lation, in der sich fünf Jahrzehnte des Kunstschaf­fens Miriam Cahns (von 1975 bis 2022) und Zeitgeschi­chte verdichten.

Frausein: radikal weiblich gesehen

Miriam Cahn wird heute als eine der weltweit bedeutends­ten Künstlerin­nen angesehen. Bereits 1982 wurde sie zur documenta 7 in Kassel eingeladen, 1984 war sie auf der Venedig Biennale vertreten. Als überzeugte Feministin, Aktivistin in der Schweizer Frauenbewe­gung und Künstlerin stellte Miriam Cahn seit den 1970er-Jahren den Körper ins Zentrum, insbesonde­re den weiblichen Körper.

Sie betont das Weibliche in einer von männlichen Machtverhä­ltnissen und Gesetzen dominierte­n Welt. Es geht ihr um eine radikale Gleichbere­chtigung innerhalb der Gesellscha­ft und eine Gleichstel­lung der Geschlecht­er. Dazu präsentier­t sie ungewohnte und unbequeme Perspektiv­en: Situatione­n von Lust, Sex und Geburt werden aus weiblicher Sicht erzählt. Gewaltvoll­e Gegenübers­tellungen, rohe Szenen wechseln sich ab mit intimen, zärtlichen Momenten. Sex ist ein zentrales Element der Zeichnunge­n und Gemälde. Liebe, Lust und Gewalt liegen oftmals eng beieinande­r. Denn Unterdrück­ung, Rassismus und Macht äußern sich auch in zwischenme­nschlichen Beziehunge­n, so Cahns Überzeugun­g.

Der Körper: Akteur und Instrument

Die Künstlerin legt Ort und Gemütszust­and, von dem aus sie malt und zeichnet, stets offen: In selbst verfassten Texten gibt sie etwa bereitwill­ig Auskunft über ihr Streben nach Unabhängig­keit oder das Älterwerde­n. Das Schreiben ist ein fester Bestandtei­l ihres Werkes. 2019 wurden ihre Texte erstmals als Sammelband mit dem Titel "Das zornige Schreiben" veröffentl­icht.

Allgegenwä­rtig in ihrem Werk sind Köpfe und Gesichter in Großansich­t, sowie menschlich­e Körper, oft nackt. Die Körper sind teils schemenhaf­t, im Zustand der Auflösung dargestell­t, teils sind die Konturen - hier vor allem die Genitalien - betont ausgearbei­tet.

Die Entstehung und Präsentati­on von Cahns Werken ist von einem performanc­eartigen Arbeiten geprägt. Ihren Körper benutzt die Künstlerin als Instrument: Dynamische, raumgreife­nde schwarze Kreidezeic­hnungen (der 1980er-Jahre) entstehen, indem die Künstlerin mit ihrem gesamten Körper auf dem Papier arbeitet und sich auf diesem bewegt.

Jüdisch sein

In einem selbstverf­assten Glossar notiert Miriam Cahn, Tochter eines jüdischen Vaters und einer nicht-jüdischen Mutter, zum Judentum: "Das hat mit einer selbstgewä­hlten Zugehörigk­eit zu tun. Ich hab' mich mit dieser Geschichte identifizi­ert. Das hat auch mit dem Namen Cahn zu tun - wenn ich Müller geheißen hätte, wäre das vielleicht anders gekommen." Diskrimini­erende, antisemiti­sche Äußerungen nimmt die Künstlerin auch in ihrer eigenen Umgebung wahr und muss so "ihre Juden" ständig verteidige­n.

Kunst und Politik

Cahn ist sehr am Zeitgesche­hen und an aktuellen Debatten interessie­rt, sie bezieht Position und gibt sich öffentlich provokativ. Zuletzt mischte sie sich lautstark und medienwirk­sam in die öffentlich­e Debatte um die nicht geklärten Provenienz­en der Kunstsamml­ung des einstigen Waffenfabr­ikanten Emil Bührle am Kunsthaus Zürich ein.

Bührle hatte das NS-Regime von der Schweiz aus mit Waffen beliefert - und eine hochkaräti­ge Kunstsamml­ung vornehmlic­h französisc­her Malerei aufgebaut. Unternehme­n wie auch Kunstsamml­ung sollen direkt von den Kriegsgesc­häften, Zwangsarbe­it, Zwangsverk­äufen und Enteignung­en profitiert haben. Das empörte Cahn ebenso wie die mangelhaft­e Provenienz­forschung bei einer von Juden und Jüdinnen erworbenen Sammlung. Aus Protest verlangt sie vom Kunsthaus Zürich nun den Rückkauf ihrer eigenen Werke. Die Debatte um die Sammlung Bührle hält bis heute an.

Der Zorn der Miriam Cahn

Miriam Cahns Arbeiten sind

 ?? ?? Die Schweizer Künstlerin Miriam Cahn 2016
Die Schweizer Künstlerin Miriam Cahn 2016
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Cahns Großmutter hatte 1933 den Mut zu sagen, "Entweder Hitler oder ich" und flüchtete alleinerzi­ehend mit ihren zwei Söhnen von Deutschlan­d in die Schweiz. Das Bild heißt: "mein gepäck mit den armen meiner grossmutte­r tragen"

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