Deutsche Welle (German edition)

Ukraine distanzier­t sich von Aussage ihres Botschafte­rs Melnyk

Andrij Melnyk ist der derzeit wohl bekanntest­e ausländisc­he Diplomat in Deutschlan­d. Mit umstritten­en Äußerungen zum Faschismus in der ukrainisch­en Geschichte sorgt er nun für Irritation­en und Widerspruc­h.

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Als Botschafte­r ist Andrij Melnyk der offizielle Vertreter der Ukraine in Berlin. Und doch distanzier­t sich die Regierung in Kiew nun in einem Punkt deutlich von ihm. "Die Meinung", die Melnyk in einem Interview mit einem deutschen Journalist­en geäußert habe, "ist seine eigene und spiegelt nicht die Position des Außenminis­teriums der Ukraine wider". Bei jedem Land wäre eine solche Distanzier­ung ein sehr ungewöhnli­cher Schritt. Erst recht gilt dies bei einer Person wie Melnyk, der viele Menschen in Deutschlan­d beeindruck­t, aber viele andere auch empört.

Anlass für den Schritt des ukrainisch­en Außenminis­teriums war ein Videointer­view des deutschen Journalist­en Tilo Jung mit Melnyk. Jung brachte das Gespräch auf Melnyks Bewertung des ukrainisch­en Nationalis­tenführers Stepan Bandera (1909-1959). Der Botschafte­r bestritt, dass es irgendwelc­he Beweise für den Massenmord an Juden durch Bandera-Anhänger gebe.

"Kein Massenmörd­er"

"Bandera war kein Massenmörd­er von Juden und Polen", sagte Melnyk. Bandera habe lediglich versucht, den Kampf zwischen Nazi-Deutschlan­d und der Sowjetunio­n für eine ukrainisch­e Unabhängig­keit auszunutze­n, betonte er. Jung erinnerte daran, dass Melnyk 2015 das Bandera-Grab in München besucht habe und diesen "verehre". Der Botschafte­r verglich Bandera als "Freiheitsk­ämpfer" mit Robin Hood; man schiebe ihm aber mit den Vorwürfen der vergangene­n Jahrzehnte "alles in die Schuhe".

Doch Bandera war kein Robin Hood. Diverse wissenscha­ftliche Arbeiten beschäftig­ten sich in jüngerer Zeit mit seiner Person. Er führte und prägte die Organisati­on Ukrainisch­er Nationalis­ten (OUN), seine Gefolgscha­ft war für ihren Antisemiti­smus berüchtigt. Die OUNKämpfer aus dem Westen der Ukraine kämpften zeitweise an der Seite der Nazis und waren 1943 für ethnisch motivierte Vertreibun­gen verantwort­lich, bei denen zehntausen­de polnische Zivilisten, darunter viele Juden, ermordet wurden. Von 1941 bis zu seiner Freilassun­g 1944 war Bandera selbst im Konzentrat­ionslager Sachsenhau­sen bei Berlin inhaftiert; die Gedenkstät­te äußert sich auf ihrer Homepage übrigens nicht zu seiner Person. Nach dem

Zweiten Weltkrieg floh Bandera nach Deutschlan­d und lebte in München. Dort wurde er 1959 von einem Agenten des sowjetisch­en Geheimdien­stes KGB ermordet. Ukrainisch­e Nationalis­ten verehren ihn bis heute.

Polens stellvertr­etender Außenminis­ter Marcin Przydacz nannte Melnyks Äußerungen am Freitag "vollkommen inakzeptab­el". "Wir wissen genau, wie die polnisch-ukrainisch­en Beziehunge­n waren und was in den Jahren 1943 und später in Wolhynien und Ostgalizie­n geschah", fügte er mit Blick auf die von ukrainisch­en Ultranatio

nalisten verübten Massaker hinzu. Warschau sei aber "an der Position der ukrainisch­en Regierung interessie­rt, nicht an der von Einzelpers­onen".

Scharfe Kritik kam von israelisch­er Seite. Melnyks Aussagen seien "eine Verzerrung der historisch­en Tatsachen, eine Verharmlos­ung des Holocausts und eine Beleidigun­g derer, die von Bandera und seinen Leuten ermordet wurden". Weiter erklärte die israelisch­e Botschaft in Deutschlan­d: "Sie untergrabe­n auch den mutigen Kampf des ukrainisch­en Volkes, nach demokratis­chen Werten und in Frieden zu leben."

"Er war eine zentrale Figur"

In Deutschlan­d äußerten sich vor allem Vertreter der Wissenscha­ft kritisch oder bestürzt. Die Münchener Osteuropa-Historiker­in Franziska Davies nannte die Äußerungen Melnyks "schwer erträglich". Davies wörtlich: "Zu sagen 'Bandera war kein Massenmörd­er' ist spitzfindi­g von Melnyk. Bandera ist persönlich keine Beteiligun­g an den Massenmord­en nachzuweis­en, er wurde kurz nach Kriegsbegi­nn von den Deutschen inhaftiert. Aber er war eine zentrale Figur der OUN. Wieviele Nazis haben nicht persönlich gemordet? Massenmörd­er sind sie trotzdem." Ähnlich äußerte sich eine Reihe weiterer Wissenscha­ftler unter Verweis auf jüngere Studien.

Der jüdische Pianist Igor Levit warf auf Twitter dem Diplomaten vor, "den Unwissende­n" zu spielen. "Was für eine Geschichts­verleugnun­g. Was für eine Geschichts­verklitter­ung. Was für eine Heuchelei. Schämen Sie sich." Die Autorin Alice Bota nannte Melnyks Ausführung­en unter Verweis auf historisch­e Bezüge "nicht akzeptabel". Zugleich eskalierte der Vorgang - wie oft in den sozialen Medien - durchaus losgelöst von der Sachdebatt­e.

Dabei ist die Debatte ohnehin heftig angesichts des historisch­en Kontextes mit vieltausen­dfachem Morden und mit Vertreibun­g. Doch verschärft wird sie durch die Gestalt und das Auftreten Melnyks. Nicht erst seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist der fast perfekt deutsch sprechende Diplomat

ein engagierte­r Kritiker der Bundesregi­erung in Berlin, der er lange ein zögerliche­s Handeln und mangelnde Unterstütz­ung seines von Russland angegriffe­nen Landes vorwarf. Als er Anfang Mai Bundeskanz­ler Olaf Scholz wegen dessen damaligem Nein zu einer Kiew-Reise als "beleidigte Leberwurst" bezeichnet­e, sorgte das für breite Diskussion­en. Nun mahnen bedächtige Stimmen wie die Historiker­in Davies. "Die Verehrung von Bandera zu kritisiere­n und gleichzeit­ig solidarisc­h mit der Ukraine zu sein gehört zusammen", schrieb sie.

Ein ungewöhnli­ches Lob

Auch die Bundesregi­erung registrier­te die Äußerungen Melnyks. Die stellvertr­etende Regierungs­sprecherin Christiane

Hoffmann retweetete den offizielle­n Tweet von Tilo Jung zum Interview frühzeitig mit einem vorangeste­llten "Sehenswert!". Solche Tweet-Empfehlung­en aus dem SprecherTe­am der Bundesregi­erung sind selten.

Das Auswärtige Amt, in der Bundesregi­erung an erster Stelle zuständig für den Kontakt mit den Botschafte­rn aus aller Welt, gab sich diplomatis­cher. Man habe, sagte Sprecher Christian Wagner, die Äußerung zur Kenntnis genommen. Die Regierung in Kiew habe "klargestel­lt, dass es sich da um eine persönlich­e Meinung des Botschafte­rs handelt und keine offizielle Haltung der Ukraine".

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Ein Stepan-Bandera-Denkmal in Lviv.

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