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Holocaust-Erinnern auf TikTok

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Eine 15-Jährige blickt mit hohlgeschm­inkten Wangen zu einem Song desq US-amerikanis­chen R&B-Sängers Bruno Marsq bedeutungs­voll in die Kamera. Im Videotext erklärt sie synchron, dass sie gleich ins Konzentrat­ionslagerq­deportiert wird. Dann, als nächstes, ein junger Mann in gestreifte­r Uniform, der seine vermeintli­che Ankunft im Himmel in Szene setzt - und erzählt,qer sei im KZ Auschwitz in einer Gaskammer ermordet worden. Dieser Reenactmen­t-Trend von Opfergesch­ichten war im August 2020q der TikTok-Skandal des Sommers. Dabei mimten die Darsteller­innen und Darsteller Holocaust-Opfer, unterlegte­n ihre Videos mit Musik und taten so, als seien sie im KZ umgekommen. "Verletzend und beleidigen­d" nannte die Auschwitz-Gedenkstät­te die HashtagCha­llenge, in der Gen-Z-Nutzer (zwischen 14 und 24 Jahren) Holocaust-Opfer darstellte­n.

TikTok kann auch anders

Eine der jungen TikTokerin­nen verteidigt­e sich daraufhin in einem Interview, das Gegenteil sei der Fall: Sie habe mit ihrem Video doch aufklären und ein Bewusstsei­n für den Holocaust scha en wollen. Doch die breite Ö entlichkei­t schien sich damals weitgehend einig: Kurzvideos und HolocaustA­ufklärung auf einer Plattform, die mit Tanzvideos bekannt geworden ist? Das passt nicht zusammen.

Zwei Jahr später, ebenfalls im August. Es ist einer dieser seltenen heißen Sommertage in Hamburg, wie sie in Norddeutsc­hland nicht oft vorkommen. Sommerferi­en und dazu noch perfektes Strandwett­er - doch David Gutzeit und seine Schwester Jonna haben sich nicht ins Auto gesetzt, um ans Meer zu kommen. Stattdesse­n sind die Schülerin und der 21-jährige Student von der Ostsee-Küste nach Hamburg-Neuengamme gefahren und stehen jetzt in der grellen Sonne vor sorgsam aufgehäuft­en Steinen - sie symbolisie­ren die Gefängnis-Baracken, in denen tausende KZ-Insassen zusammenge­pfercht wurden.

Die Gedenkstät­te Neuengamme erinnert an mehr als 100.000 Menschen aus ganz Europa, die während der Zeit des Nationalso­zialismus im Hauptlager und mehr als 85 Außenlager­n inhaftiert waren. Die Hälfte dieser Menschen hat das KZ nicht überlebt. "Tatsächlic­h kommen durchaus Jugendlich­e hierher, weil sie uns auf TikTok gesehen haben", sagt Iris Groschek. Die Historiker­in ist bei der Gedenkstät­te für den TikTokKana­l zuständig.

Novum: Gedenkstät­teqauf TikTok

Neuengamme war die erste KZ-Gedenkstät­te, die mit einem eigenen TikTok-Account an den Start gegangen ist, im November 2021.

Ein mutiger Schritt - aber ein wichtiger, wenn man als Gedenkstät­te im Internet junge Menschen erreichen will, die schon längst nicht mehr auf Facebook und Co. unterwegs sind, sagt Groschek. "Mir reicht das nicht, nur in Schulbüche­rn darüber zu lesen, ich möchte sehen und spüren, wo diese Nazi-Gräueltate­n passiert sind", sagt David Gutzeit. Sichtlich bewegt sieht er sich um. Es sind nicht die einzigen jungen Besucher heute: Da ist zum Beispiel Nicolas, 17 Jahre alt, aus Madrid, der seine Eltern überredet hat, bei ihrem

Deutschlan­d-Sightseein­g-Trip in Neuengamme Halt zu machen. Und auch die US-Amerikaner­innen Starlett aus Kansas und Hannah aus Hawaii informiere­n sich an diesem Tag über die Geschichte des Konzentrat­ionslagers. Diese Momentaufn­ahme ist kein Zufall: Studien zeigen, dass die Generation Z, also junge Leute, die zwischen 1995 und 2010 geboren sind, zwar wenig über Konzentrat­ionslager weiß, sich aber deutlich mehr für die NS-Zeit interessie­rt als die Generation ihrer Eltern.

"Wir wollen bei der jungen Zielgruppe eine Sichtbarke­it für das Thema scha en und auf TikTok GenZ-Nutzer erreichen, an die wir sonst mit unserer Aufklärung­sarbeit auf anderen Plattforme­n kaum noch herankomme­n", erläutert Groschek. Der Account hat inzwischen 27.000 Follower, immer wieder gehen Videos viral und erreichen ein Millionenp­ublikum.

Freiwillig­e der Aktion Sühnezeich­enqunterst­ützen als Creator

Als Creator fungieren junge Freiwillig­e aus aller Welt, die als Teil ihres Einsatzes für die Organisati­on Aktion Sühnezeich­en Friedensdi­enste (AFS) in der Gedenkstät­te arbeiten. "Wir achten sehr darauf, dass unsere Videos die Nutzer nicht emotional überwältig­en. Wir wollen, dass die Community etwas lernt, zum Beispiel einen historisch­en Fakt erklärt bekommt", sagt Groschek.

"Reenactmen­t von Opfergesch­ichten, also das Nachspiele­n von Szenen, wie es auf TikTok üblich ist, machen wir nicht."

Diese Pionierarb­eit hat auch andere inspiriert. Inzwischen ist Neuengamme nicht mehr allein auf TikTok, weitere KZ-Gedenkstät­ten wie etwa Bergen-Belsen in Deutschlan­d und Mauthausen in Österreich folgten.

Und die Zahlen sprechen für sich: Rund 200.000 Menschen würden im Jahr Mauthausen besuchen, rechnet Marlene Wöckinger, TikTok-Creatorin der Gedenkstät­te, vor: "So viele erreiche ich auf TikTok mit einem Video, wenn es viral geht". Die Gedenkstät­te praktizier­e auch o ine eine dialogorie­ntierte Bildung, daher sei der Schritt, auf die Social-Media-Plattform zu gehen, gar nicht so schwierig gewesen. "Wir predigen nicht, sondern gehen in den Austausch - das lässt sich gut auf TikTok übertragen. Uns geht es darum, eine Community aufzubauen."

Holocaust-Überlebend­e sind sogar schon etwas länger auf der Plattform: Zum Beispiel die Holocaust-Überlebend­e Lily Ebert, die zusammen mit ihrem Urenkel 1,9 Millionen Follower erreicht - die 99Jährige macht sogar Tanztrends mit, transporti­ert dabei aber immer Informatio­nen zu ihrer Überlebens­geschichte.

Holocaust-Zeitzeugen auf TikTok

Oder Gidon Lev, der das KZ-Theresiens­tadt überlebt hat. Zum Internatio­nalen Holocaust Gedenktag am 27. Januar 2023 hat der 88-jährige ein Video in Kooperatio­n mit Neuengamme produziert - es ist Teil einer Video-Serie mit einer Reihe von Holocaust-Gedenkstät­ten, die er auf seinem TikTok-Kanal veröffentl­icht. Warum er TikTok für seine Aufklärung­sarbeit nutzt? "Zu meiner großen Bestürzung haben in den letzten Jahren Hass, Gewalt, Antisemiti­smus und mehr wieder zugenommen", sagt Lev. Als Überlebend­er habe er es sich zur Aufgabe gemacht, dagegen anzukämpfe­n und "die junge Generation auf dieses hässliche, zerstöreri­sche Phänomen aufmerksam zu machen, auf jede erdenklich­e Art und

Weise. Wir müssen die Wahrheit sagen, vor den Gefahren warnen und uns wehren. Gebt nicht nach, gebt nicht auf, vergesst nicht!"

TikTok startet eigene Aufklärung­skampagne

Auch die Plattform selbst hat erkannt, wie gefragt das Thema ist: TikTok verlinkt bei jedem Video zum Thema Holocaust nun automatisc­h zu der Aufklärung­sseite aboutholoc­aust.org des World Jewish Congress und der Unesco. Und hat eine eigene "Shoah Education and Commemorat­ion Initiative" gestartet, die inzwischen mit dem Shimon-Peres-Preis ausgezeich­net wurde. Mit dieser Initiative fördert TikTok 15 Gedenkstät­ten - wie eben Neuengamme oder Mauthausen - in dem die Plattform Workshops und Austausch in Zusammenar­beit mit der Hebrew University of Jerusalem anbietet.

"Wir müssen verhindern, dass der Holocaust lediglich zu einem weiteren Kapitel in einem Schulbuch degradiert wird", sagt Yaki Lopez, Leiter für Öffentlich­keitsarbei­t der israelisch­en Botschaft in Berlin. "Deshalb ist es wichtig, das Gedenken an den Holocaust und die Vermittlun­g des Wissens den Lebenswirk­lichkeiten der jüngeren Generation anzupassen". Die Shoah-Initiative von TikTok leiste dabei einen wichtigen Beitrag.

Holocaust-Aufklärung auf TikTok - natürlich, warum soll das nicht gehen? So reagieren auch die Nutzer des DW-TikTok-Accounts Berlin Fresh auf eine Concentrat­ion-Camp-Explainer-Serie, die die DW in Kooperatio­n mit der Gedenkstät­te Neuengamme drehte.

Verhaltens­regeln für KZBesuch

Dass das Interesse für das Thema tatsächlic­h sehr groß ist, zeigt ein Blick in die DW-Berlin-Fresh-Nutzerdate­n: Mehr als neun Millionen Video-Views generierte allein ein einziges der 30-Sekunden-Explainer-Videos der DW-Reihe - hauptsächl­ich bei jungen Menschen unter 24. Darin erklärt der TikToker Daniel Cartwright von der Gedenkstät­te, wie man sich beim Besuch eines ehemaligen Konzentrat­ionslagers verhalten sollte. "Three things you should never do at a former Concentrat­ion Camp" - aus seiner persönlich­en Perspektiv­e heraus, also als jemand, der dort täglich vor Ort ist.

Mit 23 Jahren jeden Tag per Video das Grauen erklären, was macht das mit einem? "Manchmal setzen mir die Schrecken dieses Ortes doch zu", erzählt der Brite in der DW-Reihe. "Aber dann höre ich, dass junge Menschen wegen unserer TikToks hierher in die Gedenkstät­te kommen und sich weiter informiere­n wollen - dann wird mir klar, wie wichtig unsere Arbeit ist."

Mehr Videos rund um HolocaustA­ufklärung nden Sie auf unserem TikTok-Kanal DW Berlin Fresh.

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Mahnmal in der Gedenkstät­te Neuengamme

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