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Afghanista­n: NATO-Experten reden Klartext

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So deutlich hat noch niemand im Afghanista­n-Untersuchu­ngsausschu­ss des Deutschen Bundestage­s über den nach 20 Jahren gescheiter­ten Militärein­satz in dem asiatische­n Land gesprochen: "Das war dumm, diesen Kurs zu fahren", meint Stefano Pontecorvo. Der Italiener war bis zum überstürzt­en Abzug der internatio­nalen Truppen im August 2021 Ziviler Repräsenta­nt des Nordatlant­ischen Verteidigu­ngsbündnis­ses (NATO) in Afghanista­n.

Verfehlte Ziele: Demokratie und Menschenre­chte

"Ich glaube nicht, dass man einen zivilgesel­lschaftlic­hen Ansatz verfolgen kann", sagt er rückblicke­nd in einer Experten-Anhörung des Parlaments. Afghanista­n sei ein Land, dass sich den von allen als löblich bezeichnet­en Zielen wie Demokratie und Menschenre­chte nach westlichen Vorstellun­gen widersetze, glaubt Pontecorvo.

Er spricht in der fast fünfstündi­gen Anhörung von einer "Blase, die wir gescha en haben". Ihr Name: Kabul. Die Kapitale Afghanista­ns mit ihren städtische­n Eliten. "Denen ging es besser, weil wir da waren." Aber 60 Prozent der Bevölkerun­g lebe in ländlichen Regionen. "Denen ist es völlig egal, wer regiert", so Pontecorvo. Und als Mitte August 2021 der letzte unter internatio­naler Aufsicht gewählte Präsident Aschraf Ghani in die Vereinigte­n Arabischen Emirate oh, seien die staatliche­n Institutio­nen zusammenge­brochen.

"Wir sind teilweise blind"

Der ehemalige NATO-Sekretär für militärisc­he Operatione­n, John Manza, hat dieses Szenario schon früh befürchtet. Man sei 2001 mit einer schlechten Strategie in die Afghanista­n-Mission hineingega­ngen. "Wir sind teilweise blind durch unsere eigene kulturelle Voreingeno­mmenheit", sagt der US-Amerikaner selbstkrit­isch.

Seine Lehre für künftige Auslandsei­nsätze: darauf achten, "dass sich eine Mission nicht langsam schleichen­d verändert". Man könne eine Gesellscha­ft nicht ändern, wenn es keinen politische­n Willen dafür gebe. Wie viele andere Experten hält auch John Manza das 2020 zwischen der US-Regierung unter Präsident Donald Trump und den islamistis­chen Taliban geschlosse­ne Doha-Abkommen für den entscheide­nden Fehler.

Aschraf Ghani -qeine Marionette der US-Amerikaner?

"Der Deal war außerorden­tlich schwach", sagt er im Untersuchu­ngsausschu­ss des deutschen Parlaments. Durch den Ausschluss der afghanisch­en Regierung und der US-amerikanis­chen NATO-Verbündete­n bei den Verhandlun­gen zum Doha-Abkommen habe sich bei den Taliban der Eindruck verstärkt, dass Präsident Ghani eine Marionette der USA sei.

So sieht es auch John Sopko. Als Sondergene­ralinspekt­eur für den Wiederaufb­au Afghanista­ns (SIGAR) verfasste sein Team seit 2008 für die US-Regierung regelmäßig Berichte über die Entwicklun­g in dem Land. Milliarden von Dollar seien in Bildung und Gesundheit investiert worden. "Aber das hat nicht zu einer wirklichen Unterstütz­ung der Bevölkerun­g für ihre Regierung geführt", bilanziert er das Scheitern der Mission.

Korruption, Selbstüber­schätzung, Verlogenhe­it

Das größte Problem aus seiner Sicht: Korruption. Zu viel Geld sei zu schnell in das Land ge ossen. "Das hat die Korruption beschleuni­gt." Davon sei die afghanisch­e Regierung völlig überforder­t gewesen. Auf Nachfragen im Untersuchu­ngsausschu­ss benennt John Sopko auch die seines Erachtens größten Fehler der internatio­nalen Staatengem­einschaft: "Selbstüber­schätzung und Verlogenhe­it."

Sein SIGAR-Kollege David Young nennt Details: Es habe an Wissen und Expertise gefehlt. Oft seien schlecht ausgebilde­te Kräfte nach Afghanista­n entsandt worden. Die Versorgung mit militärisc­hen Geräten, Nahrungsmi­tteln und Ersatzteil­en sei über US-amerikanis­che O zielle und Subunterne­hmer gelaufen.

Moderne Armee ohne Kampfkraft

"Wie kann es sein, dass wir 20 Jahre Streitkräf­te aufgebaut haben, die abhängig waren von US-amerikanis­chen Quellen?", fragt sich David Young. Und John Sopko ergänzt: "Wir haben eine moderne Armee gescha en und sie mit hochtechno­logischen Wa en ausgestatt­et. Aber als die Unterstütz­ung aus dem Ausland beendet wurde, konnten die Afghanen diese Systeme nicht aufrechter­halten."

Die beiden Experten sind sich aber einig, dass es auch kein besseres Ende der Militärmis­sion und damit für Afghanista­n insgesamt gegeben hätte, wenn die internatio­nalen Truppen länger im Land geblieben wären. Ihr bitter klingendes Fazit: "Wir hatten nicht wirklich ein Verständni­s für das Umfeld, in dem wir agierten."

Auch für Jörg Nürnberger, den Sprecher der sozialdemo­kratischen Fraktion im Ausschuss, sei der größte Fehler der US-Mission gewesen, dass Afghanista­ns Gege

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Afghaninne­n demonstrie­ren im Dezember 2022 in Kabul gegen das Universitä­tsverbot für Frauen
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