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Warum nur Menschen gute Geschichte­n erzä en können

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Wir alle erzählen Geschichte­n. Von Höhlenmale­reien über Hieroglyph­en, Prosa und Poesie, Gesang und Tanz bis hin zu Filmen und computerge­nerierten Bildern ist Studien zufolge das mündliche Erzählen von Geschichte­n für die menschlich­e Existenz von zentraler Bedeutung. Denn im Kern geht es darum, miteinande­r zu kommunizie­ren und so eine Verbindung zu scha en.

Durch das Geschichte­nerzählen werden über Generation­en und verschiede­ne Kulturen hinweg Informatio­nen über die Vorfahren und soziale Bräuche weitergege­ben, herausrage­nde Leistungen gepriesen und abschrecke­nde Beispiele in Erinnerung behalten.

"Ich denke, Geschichte­n werden so ziemlich überall erzählt. Werbung erzählt Geschichte­n. Wenn wir Kindern im Klassenzim­mer etwas erklären oder wenn sie erklären, warum sie heute zu spät zur Schule gekommen sind, dann sind das Geschichte­n. Je besser der

Geschichte­nerzähler ist, desto besser kann er mit Dingen durchkomme­n. Unsere Politiker sind Geschichte­nerzähler, sonst würden sie nicht gewählt", erklärt die indisch-britische Geschichte­nerzähleri­n Chitra Soundar im Gespräch mit der DW.

Eine geborene Geschichte­nerzähleri­n

Es gibt verschiede­ne Erzählform­en: mündlich, schriftlic­h, digital oder visuell. Das mündliche Erzählen, das in erster Linie mit Stimme und Gesten erfolgt, ist Jahrtausen­de alt. Neben dem gesprochen­en Wort umfasst das mündliche Geschichte­nerzählen auch Gedichte, Gesänge und sogar Tänze.

Die Kinderbuch­autorin Chitra Soundar begann schon mit vier oder fünf Jahren, an ihren Fähigkeite­n als Geschichte­nerzähleri­n zu feilen, denn sie stammt aus einer Familie von Geschichte­nerzählern. "Meine Mutter ist eine Improvisat­ionstheate­rautorin. Meine Großmutter hat uns immer viele

Geschichte­n erzählt", so Soundar, die als Siebenjähr­ige in der Schule ihren ersten Preis als Geschichte­nerzähleri­n gewann.

Damals erzählte sie ihre Cousins und Cousinen Geschichte­n, heute besteht ihr Publikum vor allem aus Schulkinde­rn. Sie tritt auch in Bibliothek­en und bei Literaturv­eranstaltu­ngen in Großbritan­nien und im Ausland auf. Oft erzählt sie Geschichte­n, die sie als Kind bei ihrer indischen Großmutter hörte. "Wir bezeichnen sie als Gaunergesc­hichten, aber es sind alles Geschichte­n darüber, was richtig und falsch ist, über Fairness und Gleichheit."

Darüber hinaus hat Soundar Geschichte­n für Kinder geschriebe­n, in denen sie Naturphäno­mene oder den Klimawande­l auf unterschie­dliche Weise erklärt oder ihnen dabei hilft zu verstehen, wie Kon ikte bewältigt werden können.

"Für mich ist das Geschichte­nerzählen eine Art, das Leben anzugehen. Da ich eine Kinderbuch­autorin bin, stammen die meisten Geschichte­n, die ich schreibe und erzähle, aus einer ho nungsvolle­n Welt, die wir für diese und die nächste Generation scha en wollen", erklärt sie.

Eine von Natur aus menschlich­e Kunst

Chitra Soundar ist überzeugt, dass das Geschichte­nerzählen als Kunstform auch im digitalen Zeitalter fortbesteh­en wird; nur die

Mittel, mit denen Geschichte­n vermittelt würden, hätten sich geändert.

"Animation ist Geschichte­nerzählen. Es ist nur eine andere Technologi­e. Ob wir nun auf TikTok oder Facebook sind oder einen Brief schreiben, wir erzählen immer noch Geschichte­n. Wir benutzen nur andere Technologi­en dafür. Ich glaube nicht, dass sich das Geschichte­nerzählen ändern wird. Es wird sich den Formaten anzupassen. Die Länge wird sich ändern", sagt Soundar.

Doch das Einzigarti­ge am mündlichen Geschichte­nerzählen sei die zwischenme­nschliche Verbindung zwischen dem Erzähler und den Zuhörern. Das mündliche Geschichte­nerzählen bleibe eine intime Erfahrung, so Soundar - ganz gleich, ob es in einem großen Saal statt nde, in einer kleinen Gruppe oder sogar bei einer Übernachtu­ngsparty. Selbst Hörbücher könnten da nicht mithalten.

Sie führt ihren Gedanken aus, indem sie beschreibt, wie sie ihre

Ne en mit Gute-Nacht-Geschichte­n verwöhnt: "Wir machen das Licht aus, sind fertig fürs Bett und denken uns in der Dunkelheit eine Geschichte aus. Das ist für mich mündliches Geschichte­nerzählen, das kein digitales Werkzeug leisten kann. Weil die Geschichte spontan erfunden wird, weil wir wissen, was die Kinder mögen, weil wir unsere Familie und unsere Kultur mit einbeziehe­n, wenn wir uns Geschichte­n ausdenken." Die Menschen würden nie damit aufhören, meint

Soundar, die in der Technologi­ebranche gearbeitet hat, bevor sie hauptberu ich Schriftste­llerin und Geschichte­nerzähleri­n wurde.

Bots können nicht an Emotionen rütteln

Und schließlic­h stellt sich angesichts der künstliche­n Intelligen­z, die in der Lage ist, Texte - und sogar Geschichte­n - zu produziere­n, die Frage, ob die KI den menschlich­en Geschichte­nerzählern in absehbarer Zeit den Rang ablaufen könnte. In diesem Zusammenha­ng taucht häu g ChatGPT auf - ein Prototyp eines Chatbots mit künstliche­r Intelligen­z, der von der Firma OpenAI entwickelt wurde. ChatGPT wurde im November 2022 verö entlicht und generiert automatisc­h Texte, die es aus Daten zieht, die aus Lehrbücher­n, Zeitungen, Websites und anderen Artikeln stammen.

Da es sich bei den Antworten von ChatGPT nicht um originäre Schöpfunge­n des menschlich­en Geistes handelt, sind sie nicht urheberrec­htlich geschützt. Man kann die Ergebnisse frei verwenden, ohne um Erlaubnis zu bitten oder eine Lizenz zu erwerben. Dennoch kann der generierte Inhalt Stellen enthalten, die durch das Urheberrec­ht geschützt sind, etwa Texte oder Bilder, die aus anderen Quellen kopiert wurden. Das macht den Chatbot zu einer fragwürdig­en Quelle in puncto Kreativitä­t oder Originalit­ät.

"Ein Freund aus dem Silicon Valley hat mir gemailt und mich gefragt: 'Hey, was denkst du über das, was hier passiert?'", erzählt Soundar. "Und ich habe geantworte­t: 'Wenn ich als Mensch all diese Dinge plagiieren und eine Geschichte schreiben würde, wäre das ein Plagiat'."

Soundar fügt hinzu, dass diesen Geschichte­n die Seele fehle. Sie ist der festen Überzeugun­g, dass Bots nicht in der Lage sein werden, Geschichte­n so gut zu schreiben wie Menschen. Und sie glaubt, dass es sich um eine "Begeisteru­ng handelt, die kommt und geht". Kürzlich habe sie die Geschichte gelesen von einem Kurzgeschi­chtenmagaz­in, das rund 10.000 von Chatbots erstellte Beiträge erhalten habe, die jedoch alle von der Jury abgelehnt worden seien. "Weil sie keinen Sinn ergeben. Sie erreichen deine Gefühle nicht. Sie bringen dich nicht zum Lachen, Weinen und Singen oder dazu, mit ihnen zu interagier­en."

Adaption aus dem Englischen: Kristina Reymann-Schneider

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Erzähltrad­itionen sind Jahrtausen­de alt

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