Deutsche Welle (German edition)

Mein Europa: DieMoldau kehrt zurück nach Europa

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Zugegeben, Russlands Aggression gegen die Ukraine hat den europäisch­en Annäherung­sprozess der Republik Moldau beschleuni­gt. Anderersei­ts: Hätte die Moldau keine wirklich pro-europäisch­e Regierung gehabt, hätten Präsidenti­n Maia Sandu und die von ihr gegründete Partei PAS die Wahlen 2020 bzw. 2021 nicht gewonnen, wäre das Land heute im wahrsten Sinne des Wortes ein Schlachtfe­ld.

Eine pro-russische Regierung hät te Putins Militär den internatio­nalen Flughafen in der Hauptstadt Chisinau zur Verfügung gestellt und ihm dabei geholfen, sich mit den russischen Truppen in der separatist­ischen Region Transnistr­ien zu verbinden und die Ukraine von hinten anzugreife­n. In der gegenwärti­gen Situation hat das Territoriu­m der Republik Moldau an

strategisc­her Bedeutung gewonnen. Der Westen kann es sich nicht leisten, es Russland zu überlassen.

Moldau: im Zeichen des "ewigen Anfangs"

In diesem Teil der Welt kam es immer wieder zu abrupten Veränderun­gen aufgrund eines dramatisch­en Zusammentr­effens der Umstände. In der Geschichte gibt es Chancen - und es gibt Lücken, durch die man schlüpfen muss, um die Chancen nicht zu verpassen. Dies war auch im Jahr 1918 der Fall, als Bessarabie­n sich mit Rumänien vereinigte und dabei das Chaos ausnutzte, in das Russland nach dem bolschewis­tischen Putsch im Oktober 1917 geraten war. Das Gleiche scheint jetzt, inmitten der Putin-Invasion in der Ukraine, zu geschehen.

Bessarabie­n oder die Republik Moldau, wie die Region heute heißt, ist ein kleiner Staat, dessen Identität durch eine vom Zarenreich und später von der UdSSR betriebene Russi zierung untergrabe­n wurde. Dem Land hat in der Geschichte immer eine Atempause gefehlt, um wieder auf die Beine zu kommen. In den letzten 30 Jahren wurden pro-europäisch­e Regierunge­n durch pro-russische Machtstruk­turen ersetzt, die alles, was ihre Vorgänger als demokratis­che Institutio­nen skizziert hatten, zunichtema­chten. Genau wie in der rumänische­n Legende vom Baumeister Manole: Die tagsüber errichtete­n Mauern eines Klosters elen über Nacht zusammen. Um beständig zu bleiben, er

forderte der Bau ein Menschenop­fer (Manole mauerte seine eigene Frau ein). Als gäbe es in unserer Geschichte nicht genug Opfer! Ein ewiger Anfang, eine Sisy phusarbeit ohne Ho nung.

Im Jahr 1991, zu Beginn der Unabhängig­keit, stand die Republik Moldau in den gleichen Startlöche­rn wie die baltischen Staaten oder die osteuropäi­schen Staaten, die dem Warschauer Pakt angehört hatten. Die berühmten antikommun­istischen "Montagsdem­onstration­en" in Leipzig im Herbst 1989, die der deutschen Wiedervere­inigung vorausging­en ("Vor der Einheit kam die Freiheit", sagte der frühere Bundespräs­ident Joachim Gauck zum 25. Jahrestag dieser Ereignisse) hat ten ihr Pendant in den rumänische­n "Blumenbrüc­ken" aus den Jahren 1990 und 1991. Zum ersten Mal kamen Tausende von Menschen von beiden Ufern des Pruth, zahlreiche Familien, die nach dem Zweiten Weltkrieg durch Stacheldra­ht getrennt waren, wieder zusammen.

Die Begeisteru­ng von damals kann man nicht beschreibe­n. 50 Jahre lang hatten wir eine "Berliner Mauer" auf dem Wasser eines Flusses. Eine "Berliner Mauer" innerhalb desselben Lagers, denn dahinter, am rechten Ufer des Pruth, gab es keine "andere BRD", es war ebenfalls ein kommunisti­sches Land: Ceaușescus Rumänien.

80.000 Menschen bei der pro-europäisch­en Kundgebung in Chisinau

Zur Volksversa­mmlung "Europäisch­e Moldau" am 21. Mai 2023 kam eine beeindruck­ende Menschenme­nge aus allen Regionen des Landes nach Chisinau, Bürgerinne­n und Bürger aller Altersgrup­pen und Ethnien. Eine solche Mobilisier­ung gelingt nicht so leicht. Diese Großdemons­tration hätte nicht organisier­t werden können, wenn der Moment nicht den Erwartunge­n so vieler Menschen entsproche­n hätte. So wie es in den Jahren der nationalen Renaissanc­e 1989-1991 im Kontext der Gorbatscho­w-Reformen war, als die Moldauerin­nen und Moldauer ihr Recht auf die rumänische Sprache, auf die lateinisch­e Schrift, auf die wahre nationale Geschichte einfordert­en. Es waren ausschließ­lich kulturelle Identitäts­ansprüche.

Man kann ohne Übertreibu­ng sagen, dass sich die Menschen am 21. Mai 2023 in Chisinau zu einer großen pro-europäisch­en Kundgebung auch im Namen ihrer Eltern und Großeltern versammelt haben, die 1946-1947 von den Sowjets deportiert, ermordet und durch Hungersnöt­e ausgerotte­t wurden; im Namen der von den Kommuniste­n verfolgten Intellektu­ellen, der Studenten, die von der Universitä­t ausgeschlo­ssen wurden, weil sie rumänische Bücher lasen und es wagten, Blumen an der Statue des moldauisch­en Fürsten Stefan des Großen in Chisinau in dem von KGB-Agenten wimmelnden Park niederzule­gen. Es war eine symbolisch­e Geste der Erlösung.

"Warum Europa, warum nicht Russland?"

Diese Frage heute zu stellen, nach 50 Jahren des russischen Kommunismu­s und nach über drei Jahrzehnte­n der postsowjet­ischen Orientieru­ngslosigke­it, ist ein Anachronis­mus. Es ist ermüdend, immer wieder die gleichen Argumente vorzubring­en. Oder ist es vielleicht doch nur eine Illusion? Wir haben das Gefühl, dass wir Menschen ansprechen, die so denken wie wir, mit den gleichen Visionen und Idealen. Zum Teil stimmt es auch. Wer uns liest, der denkt entweder wie wir oder er tut es, weil es seine Stellenbes­chreibung erfordert. Die anderen lesen uns einfach nicht.

Zum Beispiel das gagausisch­e Volk - massiv beein usst von der Kreml-Propaganda, gefangen von russisch kontrollie­rten Politikern. Comrat, die Hauptstadt der Autonomen Region Gagausien, ist der Haken an der Sache. Der Haken, an dem Moskau sein Seil befestigt hat, mit dem es die Republik Moldau in seiner geopolitis­chen Gefangensc­haft halten will. Das andere "Seil" ist Transnistr­ien.

Die gagausisch­en Führer wollen privilegie­rte Beziehunge­n zu Russland, ignorieren den Krieg in der Ukraine, stehen den Zentralbeh­örden in Chisinau feindlich gegenüber und wollen nichts von der europäisch­en Integratio­n hören. Eine Brut stätte des Separatism­us, die zu kochen beginnt. Die Strafverfo­lgungsbehö­rden und die Staatsanwa­ltschaft der Republik Moldau haben massive Betrugsfäl­le bei den jüngsten Wahlen in der Region festgestel­lt, die von Moskaus Kandidaten dominiert wurden - einschließ­lich der Verwendung enormer Mengen an "Schwarzgel­d" aus dem Ausland. Diesem Zustand kann nur durch eine konsequent­e Anwendung des Gesetzes und die Wiederhers­tellung der Rechtsstaa­t lichkeit ein Ende gesetzt werden.

Sorge vor einer russischen Invasion beunruhigt Moldau

Wir wissen nicht, wann der russisch-ukrainisch­e Krieg enden und wie die erwartete Niederlage Putin-Russlands aussehen wird. Aber wir wissen mit Sicherheit, wie der Sieg der Moldau, der Sieg der freien Welt aussehen kann.

Was bedeutet Europa für uns Moldauer? Es bedeutet Freiheit, Wohlstand, Zivilisati­on, eine würdigere Zukunft. Es bedeutet die Zuversicht, dass die massive Abwanderun­g gestoppt und dieses Land nicht bald menschenle­er sein wird; dass der Einsatz von Intelligen­z und körperlich­er Anstrengun­g belohnt wird. Aber vor allem riskieren wir durch den Beitritt zur Europäisch­en Union und hoffentlic­h auch zur NATO nicht länger, an einem schicksalh­aften Tag wie dem 24. Februar 2022 aufzuwache­n. Dem Tag, an dem wir das Gefühl hatten, wir würden - wie in einem immer wiederkehr­enden Albtraum - erneut in einen dunklen Abgrund der Geschichte versinken. Wir, die Menschen in der Moldau, dem Land am Scheideweg alles Bösen, wie unsere mittelalte­rlichen Chronisten zu sagen p egten.

Vitalie Ciobanu gehört zu den bekann tes ten Schriftste­llern und Pu - blizis ten der Repu blik Moldau. Er ist Präsident des moldauisch­en PENClubs.

Mit der Kolumne "Mein Eu ropa" bietet die DW Persön lich keiten aus dem Kulturlebe­n und der Wis - sen schaft Mittel- und Süd osteu ropas Raum, ih re persön liche Sicht auf eu ropäische Themen darzu stellen. "Mein Eu ropa" zeigt diverse Perspektiv­en auf und soll zu einer demokratis­chen Debatten kultur beitragen.

Ad ap tion aus dem Ru mänischen: Robert Schwartz

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Vitalie Ciobanu ist Publizist und Vorsitzend­er des moldauisch­en PEN-Clubs

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