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EU und Türkei: Spannungen bleiben

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Die EU-Kommission in Brüssel blickt kritisch auf die zunehmend autoritäre Herrschaft von Präsident Tayyip Recep Erdogan. "Die schweren Bedenken wegen des Verfalls der Demokratie, der Rechtsstaa­tlichkeit, der Menschenre­chte und der Unabhängig­keit der Justiz sind nicht beachtet worden", schreiben die EU-Beamten des Auswärtige­n Dienstes in ihrem jüngsten Türkei-Bericht von 2022.

Es gehe stattdesse­n weiter abwärts. "Die Sorgen über die Wirtschaft­spolitik und das Funktionie­ren der Marktwirts­chaft sind weiter gewachsen." Trotzdem, so der Bericht, bleibe die Türkei ein strategisc­h wichtiger Partner bei den Themen Migration, Klimaschut­z und Energiesic­herheit.

Eine wichtige Rolle spielt das militärisc­h gut ausgestatt­ete NATO-Mit glied Türkei als Vermitt ler des Getreideha­ndel-Abkommens zwischen Russland und der Ukraine.

Heftige Kritik übten die Staatsund Regierungs­chefs der EU an den Drohgebärd­en der Türkei gegenüber den EU-Mitglieder­n Griechenla­nd und Zy pern. Die Türkei

hat mehrfach griechisch­es und zy - prisches Hoheitsgeb­iet mit ihrer Luftwaffe oder ihrer Marine verletzt.

Die EU hat die türkischen Behörden immer wieder aufgeforde­rt, Urteile des Europäisch­en Gerichtsho­fs für Menschenre­chte zu achten und zum Beispiel den Menschenre­chtsaktivi­sten Osman Kavala freizulass­en. Kavala wurde 2022 zu lebenslang­er Haft verurteilt, weil er sich angeblich an regierungs­kritischen Protesten 2013 im Istanbuler Gezi-Park beteiligt haben soll. Diese werden von der AKP-Regierung als Umsturzver­such gedeutet und Kavalas Beteiligun­g folglich als Putschvers­uch gewertet.

Was sagt die Türkei?

In einer Analy se des türkischen Außenminis­teriums heißt es hingegen, es gehe "immer mal wieder aufwärts und dann wieder abwärts". Das sei schon viele Jahrzehnte prägend für das Verhältnis von Türkei und EU.

Nach dem angebliche­n Putschvers­uch gegen Präsident Recep Tayy ip Erdogan im Juli 2016, auf den die Türkei mit Notstandge­setzen und Einschränk­ung demokra

tischer Rechte reagierte, hätten sich die Beziehunge­n sehr verschlech­tert, räumt das Ministeriu­m ein.

"Die kalte und kritische Haltung der EU im Nachgang des hinterhält­igen Coups vom 15. Juli (2016) hat eine Vertrauens­krise verursacht. Die Tatsache, dass die EU den Ein uss der 'FETÖ'-Terrororga­nisation nicht begreift und ent - sprechende Maßnahmen der Türkei kritisiert, hat den Dialog geschwächt." Unter "FETÖ" versteht der türkische Präsident eine angeblich terroristi­sche Verschwöru­ng, angeführt von dem in den USA lebenden Prediger Fetullah Gülen.

Trotzdem bleibt die EU für die Türkei ein wichtiger strategisc­her Partner. Besonders die Bedeutung des Flüchtling­s-Abkommens von 2015 wird hervorgeho­ben. Die Türkei hält sy rische Flücht linge, von denen rund 3,5 Millionen in der Türkei leben, zurück. Dafür erhielt die Regierung in Ankara bislang fast neun Milliarden Euro an nanziellen Hilfen - ausgezahlt oder zu

gesagt.

Das Abkommen ist allerdings brüchig. 2020 ö nete Präsident Erdogan kurzzeitig die Landesgren­ze zu Griechenla­nd bei Edirne und setzte die Flücht linge als politische­s Druckmitte­l ein.

Trotz allem: Die türkische Regierung verfolgt nach wie vor das Ziel, irgendwann der EU beizutrete­n. Zunächst müsse aber die EU ihre internen Probleme lösen, heißt es dazu vom Außenminis­terium in Ankara.

Ist die Türkei immer noch Beitrittsk­andidat?

Brüssel hat die Beitrittsv­erhandlung­en mit der Türkei 2018 faktisch ausgesetzt. Sie wurden aber nicht abgebroche­n. Die Verhandlun­gen, die bereits seit 2005 laufen, könnten nach der Präsidents­chaftswahl wieder belebt werden.

Voraussetz­ung wäre allerdings, dass die Türkei zumindest die Republik Zy pern als EU-Mit glied indirekt anerkennt. Türkische Truppen halten seit fast 50 Jahren den Nordteil Zy perns besetzt.

"Die Beitrittsb­emühungen sind nicht tot, aber in einem Koma", meint dazu die Türkei-Expertin Amanda Paul von der Denkfabrik "European Policy Centre" in Brüssel.

Mit Recep Tayy ip Erdogan an der Macht gebe es wenig Aussicht, das Koma zu beenden. Das hänge aber nicht nur von Ankara ab, sondern auch von der EU, so Amanda Paul im Gespräch mit der DW.

Bei den Mitgliedss­taaten und in Brüssel sei das Interesse im Moment eher gering, sich mit der immer mehr nationalis­tisch ausgericht­eten Türkei zu beschäftig­en. "Die Mit gliedschaf­t in der EU ist immer noch sehr populär bei den Türken. Rund 70 Prozent der Bevölkerun­g wollen der EU immer noch beitreten", gibt die Analystin Amanda Paul zu bedenken.

Wie geht es nach der Wahl weiter?

"Es ist eine schwierige Beziehung, die sich mit der Zeit immer weiter verschlech­tert hat. Ehrlich gesagt, glaube ich nicht an positive Veränderun­gen", sagt Amanda Paul.

Die deutsche Außenminis­terin Annalena Baerbock hat beim Treffen mit ihrem Amtskolleg­en Mev - lüt Cavusoglu in Istanbul im Juli 2022 deut liche Kritik an der Türkei geübt. Sie hat aber auch erkennen lassen, dass man keine weitere Konfrontat­ion gebrauchen könne, da der Westen in der Form der NATO zusammenge­halten werden müsse, um Russland abzuwehren.

"Zu Freundscha­ft gehört auch, einander zuhören, bis die Ohren schmerzen", hatte Annalena Baerbock damals in ihrer Pressekonf­erenz in Istanbul gesagt, immerhin sprach sie von Freundscha­ft. Die EU und die NATO erwarten, dass die Türkei nach der Wahl endlich ihre Zustimmung zur Aufnahme Schwedens in die militärisc­he Allianz gibt.

Präsident Erdogan hatte die schon vor fast einem Jahr beschlosse­ne Aufnahme Schwedens und Finnlands zunächst – mutmaßlich aus wahltaktis­chen Gründen – blockiert. Das Veto gegen Finnland zog er im April zurück. Jetzt soll im Juli das OK für Schweden folgen.

 ?? ?? Schon fünf Jahre her: Letzter gemeinsame­r Gipfel der EU mit dem türkischen Präsidente­n Erdogan (Mi.) in Varna, Bulgarien
Schon fünf Jahre her: Letzter gemeinsame­r Gipfel der EU mit dem türkischen Präsidente­n Erdogan (Mi.) in Varna, Bulgarien

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