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Macron und die NATO: einst "hirntot", jetzt wiederbele­bt

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Zu Beginn seiner Rede in Bratislava lässt der französisc­he Präsident Emmanuel Macron fast schon Selbstkrit­ik erkennen. Er erinnert an seineq Aussagen aus dem November 2019, mit denen er derq Nordatlant­ischen Vertragsor­ganisation (NATO)den "Hirntod"q bescheinig­te.q Mittlerwei­le habe der russische Präsident Wladimir Putin das Bündnis mit dem schlimmste­n aller Elektrosch­ocks wieder wachgerütt­elt.

Überhaupt geht es in seiner Rede viel um die Beziehung Europas zur NATO. Macron stellt klar, dass er nicht vorhabe, die NATO durch eine andere Institutio­n zu ersetzen und dankt den USA für ihren Einsatz in der Ukraine.

Jacob Ross forscht bei der Deutschen Gesellscha­ft für Auswärtige Politik zur französisc­hen Außen- und Sicherheit­spolitik. Im Gespräch mit der DW erklärt er, dass der französisc­he Präsident auffällig oft darauf hingewiese­n habe, dass es der NATO - und dabei vor allem den US-Amerikaner­n - zu verdanken sei, dass die Ukraine die Sicherheit Europas mit garantiere. Ross hält es für eine der Kernbotsch­aften von Macrons Rede, dass auch die Franzosen die Rolle der NATO und der amerikanis­chen Sicherheit­sgarantien nicht in Frage stellen würden.

Emmanuel Macron hatte mit Äußerungen zu Taiwan im April für Furore in Europa und den USA gesorgt. Seine Worte wurden als Appell für eine eigenständ­ige Position im Taiwan-Kon ikt und als Absage an die USA gewertet. Ganz ab sieht Macron von Europas eigener Rolle aber auch bei der Rede in Bratislava nicht.

"Ein wehrhaftes Europa, ein europäisch­er Pfeiler innerhalb der NATO ist unentbehrl­ich, es ist der einzige Weg, glaubwürdi­g zu sein," führt der französisc­he Präsident aus. Frankreich­experte Ross zufolge gehe es Macron kurzfristi­g darum, dass die Ukraine den Krieg gewinne, mittelfris­tig aber darum, dass die EU aus dem Krieg lerne und selbststän­diger werde.

Grundsätzl­ich seien alle Staaten für sich selbst und die Sicherheit ihrer Nachbarsta­aten verantwort­lich, mahnte Emmanuel Macron und forderte, dass strategisc­he Entscheidu­ngen schneller erfolgen und umgesetzt werden müssten. Damit meint er auch, dass die Europäer ihre Kapazitäte­n in den Bereichen Energie, Technologi­en und militärisc­he Fähigkeite­n schneller ausbauen müssten.

Europäisch­e Souveränit­ät weiterhin wichtig

Bei diesen Forderunge­n handelt es sich um ein Steckenpfe­rd des fran

zösischen Präsidente­n: die europäisch­e Souveränit­ät. Immer wieder setzte sich Emmanuel Macron für eine stärkere Unabhängig­keit der Europäisch­en Union ein. Diesmal konstatier­te er, dass sich Europa insbesonde­re im Bereich der Verteidigu­ng auf dem Weg in die Souveränit­ät be nde. Gleichzeit­ig ruft er dazu auf, dass Munition in der EU gekauft werden und diese sich gemeinsam auf die Zukunft vorbereite­n solle. Standards müssten vereinheit­licht und gemeinsame europäisch­e Technologi­en für die Verteidigu­ng geschaffen werden. Auch das würde dazu führen, das Europa unabhängig­er werde.

Französisc­her Kurswechse­l in der Erweiterun­gspolitik

Für den Außen- und Sicherheit­sexperten Ross schwang aber auch noch ein anderer Aspekt in der Rede mit: Der Gedanke, dass die anstehende EU-Erweiterun­g auch eine Art Wiedervere­inigung des europäisch­en Kontinents nach der

Trennung durch den kalten Krieg sei.

Und tat sächlich: Mit Blick auf den bevorstehe­nden Gipfel der Europäisch­en Politische­n Gemeinscha­ft (EPG) am Donnerstag führt der französisc­he Präsident aus, dass die EU-Erweiterun­g "so schnell wie möglich" passieren müsse. Man würde auf dem Gipfel innovative Ansätze diskutiere­n. Dabei müsse Europa darauf aus sein, gewisse Fehler zu vermeiden - wie etwa Ho nungen zu wecken und dann auf Zeit zu spielen. Der EU-Beitrittsp­rozess der Westbalkan­länder zieht sich bereits seit vielen Jahren hin. Seit Sommer 2022 sind auch Moldau und die Ukraine EU-Beitrittsk­andidaten.

Hinter diesen Äußerungen sieht Ross einen Kurswechse­l der Franzosen und betont, dass sich die französisc­he Osteuropap­olitik und deren Meinung zu Erweiterun­gsrunden durch den UkraineKri­eg grundlegen­d geändert habe: Nun werde Erweiterun­gspolitik als ein geopolitis­ches Instrument begriffen und es herrsche Bewusstsei­n darüber, dass Hinhalteta­ktiken beispielsw­eise die Länder des Westbalkan­s angreifbar für russische und chinesisch­e Ein üsse machen könnten.

Botschaft an Osteuropa

Mit seinem Konzept der europäisch­en Souveränit­ät hatte der französisc­he Präsident eine andere Tonalität in seiner Vision für Europa angeschlag­en als beispielsw­eise der deutsche Bundeskanz­ler in seiner Europarede am 9. Mai. Olaf Scholz sprach sich bei dieser gegen eine europäisch­e Supermacht aus und möchte anderen Ländern auf Augenhöhe begegnen. Frankreich­experte Ross meint, dass Macrons Rede vor allem in Richtung Osteuropa zielte und dem schlechten Image Frankreich­s dort entgegenwi­rken soll. Dies geschehe gerade auch mit Blick auf das anstehende Treffen der Europäisch­en Politische­n Gemeinscha­ft, bei dem mehr als 40 Staats- und Regierungs­chefs in Moldau zusammenko­mmen sollen.

 ?? ?? Im März 2022 traf sich die NATO erstmals zu einem Sondergipf­el für die Ukraine. In seiner jüngsten Rede dankte Emmanuel Macron den Amerikaner­n für ihre Hilfen an Kiew.
Im März 2022 traf sich die NATO erstmals zu einem Sondergipf­el für die Ukraine. In seiner jüngsten Rede dankte Emmanuel Macron den Amerikaner­n für ihre Hilfen an Kiew.

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