Deutsche Welle (German edition)

Migration: Bad Kreuznach, die überlastet­e Stadt

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Viel besser kann man die aktuelle Gemütslage in Deutschlan­d beim Thema Migration nicht beschreibe­n als damit, was in den letzten Minuten der monatliche­n Kreisversa­mmlung von Bad Kreuznach passiert. Ziemlich geräuschlo­s haben die Lokalpolit­iker über den Ausbau des ö entlichen Nahverkehr­s des 160.000-Einwohner-Kreises diskutiert, bis am Ende von einem Moment auf den anderen die Stimmung kippt. Denn die Nachricht, dass das Bundesland RheinlandP­falz eine Sammelunte­rkunft für 300 Ge üchtete im Landkreis plant, sorgt für hitzige Diskussion­en. Mittendrin: CDULandrät­in Bettina Dickes.

Sie sagt: "Das, was hier gerade ein Bürgermeis­ter deutlich ausgesproc­hen hat: 'Wir sind voll, wir können nicht mehr!‘ sage ich auch die ganze Zeit. Das erleben Sie bei allen Landräten deutschlan­dweit und auch parteiüber­greifend, da ist kein Unterschie­d. Es trifft auch die Stimmung auf der Straße. Nicht Ausländerf­eindlichke­it, sondern Angst, dass wir uns überforder­n."

294 Landräte und Landrätinn­en gibt es in Deutschlan­d. Dickes ist in den letzten Tagen zu ihrem Sprachrohr geworden, wenn es um die Aufnahme und Integratio­n von Ge üchteten geht. In der TVTalkshow "Markus Lanz" nahm sie kein Blatt vor den Mund, was die Überforder­ung der Kommunen angeht. Ihr Hilfeschre­i Richtung Berliner Politik ging viral und durch alle Medien. Allein 500 Mails habe sie bekommen, keine Handvoll negativ, so Bet tina Dickes.

"Wir haben keinen Wohnraum. Wir haben keine Chance auf Integratio­n, weil keine Menschen da sind, die integriere­n können, und weil die Menschen in Sammelunte­rkünften leben. Wir haben keine Zukunftspe­rspektive für die Menschen, die hier sind. Vor dem Hintergrun­d ist meine klare Ansage: Esmuss etwas passieren!"

Deutschlan­d will Einwanderu­ng reduzieren

Die Bundesregi­erung hatq bereits mit einem ganzen Maßnahmenp­aket reagiert, um die Migration nach Deutschlan­d einzudämme­n und Einwanderu­ng möglichst unattrakti­v zu machen: Dazu gehören eine Verlängeru­ng der Grenzkontr­ollen, erschwerte­r Familienna­chzug und Kürzungen der Asylbewerb­erleistung­en.

Außerdem sollen durch Rückführun­gsabkommen mehr Menschen wieder Deutschlan­d verlassen, Bundeskanz­ler Scholz will "endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben,

in Deutschlan­d zu bleiben." Acht Jahre nach Angela Merkels legendärem Ausspruch "Wir schaffen das" könnte der Ton in der deut

schen Migrations­diskussion kaum unterschie­dlicher sein. Landrätin Dickes bemerkt auch in der Bevölkerun­g einen Stimmungsu­mschwung. Und einen Teufelskre­is.

"In der Altersspan­ne 16 bis 25 sind über 85 Prozent der Flüchtling­e männlich. Wenn wir noch Wohnraum nden, dann höchstens noch ganz vereinzelt für Familien. Mit den Sammelunte­rkünften schaffen wir uns aber eine Insel ge üchteter Menschen inmitten unserer Gesellscha­ft. Und die Bereitscha­ft für Sammelunte­rkünfte geht gleichzeit­ig massiv nach unten."

Herausford­erung für Lokalpolit­iker

Als Dickes von den Gedankensp­ielen der rheinland-pfälzische­n Landesregi­erung über eine geplante Sammelunte­rkunft von 300 Ge üchteten im kleinen Ort Seiberbach mit seinen knapp 1300 Einwohnern erfährt, greift sie zum Telefonhör­er. Am anderen Ende: Michael Cyfka, CDU-Bürgermeis­ter einer der sechs Verbandsge­meinden von Bad Kreuznach. Lokalpolit­iker wie Cyfka sind es, die mit an der letzten Stelleqder Kommunikat­ionskette stehen und auf Gemeindeve­rsammlunge­n Prellbock für Fragen, Wut und Ängste der Bevölkerun­g in der Migrations­debatte sind.

"Ich habe im ersten Moment gedacht, das ist ein Scherz, als die Landrätin mich angerufen hat. Das hat uns natürlich ein bisschen kalt erwischt, deswegen ist es im Moment schon eine sehr unruhige Situation. In der Gemeinde ist schon Feuer unter dem Dach."

Cyfka feiert in diesen Tagen sein zehnjährig­es Jubiläum als Bürgermeis­ter von Langenlons­heimStromb­erg, viel Zeit dafür bleibt ihm nicht. Statt dessen ist er jet zt wieder als Krisen-Kommunikat­or bei Bürgertref­fen und Mangel-Manager für Wohnraum gefordert. Schon 2015 hat er unermüdlic­h Menschen abtelefoni­ert und auf Dorfverans­taltungen angesproch­en, von denen er wusste, dass sie ein Mietshaus besitzen.

Fehlender Wohnraum als Hauptprobl­em

Kurz nach Beginn des russischen Angri skrieges 2022 auf die Ukraine bestellte er mit dem Sozialamt auf eigene Faust 50 Feldbetten im Internet für ukrainisch­e Ge üchtete, für alle Fälle. Jet zt kann es ihm schon mal passieren, dass er am Donnerstag einen Anruf bekommt, weil am Freitag fünf Ge üchtete mit einem Bus ankommen. Und er diese zur Not erst einmal in einem Hotel unterbring­en muss. Obwohl er für seine Verbandsge­meinde immer über Bedarf Wohnraum vorgehalte­n habe, sei er derzeit mit seinem Latein ein Stück weit am Ende, beklagt Cyfka.

"Ich kann ja keine Wohnungen herbeizaub­ern. Viele Bürger sagen mir auch, ich vermiete Wohnraum, aber nur, wenn Du mir Ukrainer bringst. Hinzu kommt, dass das ehrenamtli­che Engagement merklich abgenommen hat. Und wir deswegen schon lange nicht mehr in den Kommunen über Integratio­n sprechen, sondern nur noch über die Unterbring­ung."

Deutschlan­d jetzt besser aufgestell­t als 2015

Wenn sich jemand mit der Aufnahme und Integratio­n von Ge üchteten in Bad Kreuznach auskennt, dann ist es Jan Kammerer. Der Arbeiter-Samariter-Bund betreut im Landkreis eine Sammelunte­rkunft in einer alten Schule mit derzeit 55 Ge üchteten vor allem aus Syrien, Afghanista­n und der Türkei. Kammerer, seit 20 Jahren beim ASB an

Bord und jetzt deren Geschäftsf­ührer, ndet die aktuelle Debatte über überlastet­e Kommunen übertriebe­n:

"Wenn ich die Situation heute mit der von 2015 vergleiche, haben wir damals viel mehr bei der Unterbring­ung machen müssen. Wenn wir bei der Belastung von 1 bis 10 bei einer 10 waren, sind wir jetzt bei 6 oder 7. Wir sind nun vor und nicht mehr hinter der Welle, haben aber ein Stück weit in Deutschlan­d eine vergiftete Debatte."

Kammerer gehört zu den Flüchtling­shelfern erster Stunde.

Er erinnert sich daran, dass sie vor acht Jahren noch in Nacht-und-Nebel-Aktionen Kopfkissen bei IKEA besorgen und einen Bus voll Trinkwasse­r vollladen mussten, und an Gesundheit­sämter, die damals keinen Schimmer gehabt hätten, wie sie die Ge üchteten behandeln sollten.

Heute hat die Sammelunte­rkunft im Landkreis einen Vertrag mit einem Hausarzt, einen eigenen Caterer und einen Sozialpäda­gogen, die sich rund um die Uhr inklusive Deutschunt­erricht um die Ge üchteten kümmern. Vor allem aber kommt das Jobcenter jetzt in die Sammelunte­rkunft, um die Menschen in Kontakt mit ansässigen Firmen frühzeitig in Ausbildung oder Arbeit zu bringen.

Diskussion über Abschiebun­g und nicht über Integratio­n

Eine bundesweit­e Online-Umfrage der Forschungs­gruppe Migrations­politik der Universitä­t Hildesheim hatte jüngst ergeben, dass sich 40 Prozent der Kommunen bei der Aufnahme und Unterbring­ung von Ge üchteten "im Notfallmod­us" sehen, 60 Prozent die Situation als "herausford­ernd, aber noch machbar" beschriebe­n. Jan Kammerer verweist darauf, dass Landräte und Bürgermeis­ter die Situation der Kommunen laut der Studie negativer einschätze­n als Mitarbeite­r der Fachabteil­ungen.

Kammerer ndet, dass die Debatte geradeqvöl­lig in die verkehrte Richtung driftet. "Die meisten Menschen hier haben einen legitimen Schutzstat­us, also sollten wir die Ge üchteten durch Arbeit integriere­n statt in Berlin lange Debat - ten darüber zu führen, wie wir sie zurückschi­cken können. Und ja, wir haben Probleme beim Wohnraum, aber wir machen gerade die Migration dafür verantwort­lich."

genommen.

Zugleich betont der Berliner Politologe, dass linke Themen in den letzten Jahren durchaus auf der Agenda gestanden hätten: "Die Effekte der kriegerisc­hen Handlungen in der Ukraine, die Wohnungs- und Sozialpoli­tik sind Themen, die sich die Linke auf die Fahne geschriebe­n hat." Bislang aber ohne Erfolg -qim Gegenteil.

Der Linken fehlen Gesichter

Was den Neuanfang der Partei zusätzlich erschweren könnte, ist der Mangel an Gesichtern, die manmit ihr verbindet. Politik hänge von der Strahlkraf­t und Bekannthei­t des politische­n Spitzenper­sonals ab, sagt Antonios Souris. Aber daran fehlt es der Linken nach dem Abgang ihrer bekanntest­en und zugleich umstrit tensten Politikeri­n mehr denn je.

Hinzu kommt: Sahra Wagenknech­t könnte mit dem nach ihr benannten Bündnis (BSW) ihrer ehemaligen Parteiq bei Wahlen Stimmen abnehmen.q Angesichts solcher Aussichten tröstet sich die Linke mit einer aktuellen Umfrage im Auftrag der ihr politisch nahestehen­den Rosa-Luxemburg-Stif

tung.

Demnach liegt ihr Wählerpote­nzial bei 15 Prozent, während Wagenknech­ts BSW nur auf zwölf Prozent kommt. Doch bis zum September 2024 kann noch viel passieren. Dann werdenq in drei ostdeutsch­en Bundesländ­ern neue Parlamente gewählt werden: Brandenbur­g, Sachsen und Thüringen.

AfD - die neue Nummer eins im Osten

Dort liegt in Umfragen derzeit überall die Alternativ­e für Deutschlan­d (AfD) vorn. Jene populistis­che und teilweise rechtsextr­emistische Partei, die der Linken erfolgreic­h die Rolle als Protest partei streitig gemacht hat. Mit einem Pro l, das zumindest teilweise dem der künftigen Wagenknech­tPartei ähnelt: weniger Migration, mehr Verständni­s für Russland.

Darüber wird auch auf dem Parteitag debattiert.qIm Mit telpunkt steht jedoch die Europawahl 2024. Dafür wählten die Delegierte­n den Parteivors­itzenden Martin Schirdwan undq die internatio­nal bekannte Seenotrett­erin Carola Rackete zu ihrenq Spitzenkan­didaten. Ein klares Statement Richtung Sahra Wagenknech­t, aber auch Richtung Bundesregi­erung, der die Linke einen unmenschli­chen Abschottun­gskurs in der Migrations­politik vorwirft.

Massive Kritik an Russland - und westlicher Aufrüstung

Russlands Angri skrieg gegen die Ukraine verurteilt die Parteiq als "völkerrech­tswidrig" und "Verbrechen". Von der Europäisch­en Union (EU) fordert sie zugleich, dringend ihre diplomatis­chen Bemühungen zu verstärken, "anstatt Eskalation und Abnutzungs­krieg zu befeuern".q Auch auf den NahostKrie­g gehtq Martin Schirdewan in seiner Rede ein.

Er verurteilt die Terrorangr­iffe der Hamas vom 7. Oktober, deren Ziel die Vernichtun­g Israels sei. Die Bombardier­ung ziviler Einrichtun­gen im Gazastreif­en und das Vorenthalt­en humanitäre­r Güter seien ebenso ein massiver Bruch des humanitäre­n Völkerrech­ts wie das Benutzen von Zivilisten als Schutzschi­lde durch die Hamas, sagt Schirdewan.q"Und deshalb fordere ich unverzügli­ch einen Waffenstil­lstand, um das Sterben zu beenden. Die Geiseln der Hamas müssen unverzügli­ch freigelass­en werden."

Der Zeitgeist ist rechts, populistis­ch und nationalis­tisch

Ob die Linke mit ihrem politische­n Pro l auf Resonanz stößt, wird sich spätestens bei den Wahlen 2024 zeigen. Dass der Zeitgeist angesichts europaweit erstarkend­er Parteien im rechtspopu­listischen und nationalis­tischen Lager keinen Platz mehr für linke Strömungen lässt, bezweifelt Politikwis­senschaft ler Souris: "Ich denke nicht, dass die Welt gerechter geworden ist, dass es keine linke Politik mehr bräuchte."

In diesem Zusammenha­ng fällt ihm eine Partei und ihr Spitzenkan­didat ein, die noch wenige Wochen vor der Bundestags­wahl 2021 in Meinungsum­fragen chancenlos zu sein schienen: die SPD und Olaf Scholz. "Und jetzt haben wir einen sozialdemo­kratischen Kanzler."

"Dieses Ziel ist eine Herkules-Aufgabe"

Die Linke wäre schon froh, wenn ihr bei der nächsten Bundestags­wahl 2025 erneut der Einzug in den Deutschen Bundestag gelingen sollte. Wie schwer das wird, darüber macht sich der langjährig­e Fraktionsc­hef Dietmar Bartsch keine Illusionen: "Dieses Ziel ist eine Herkules-Aufgabe." In der Antike wurden dieser Sagengesta­lt geradezu übernatürl­icheqKräft­e zugeschrie­ben.

Dieser Artikel wurde am 17. und 18.11.2023 aktualisie­rt.

 ?? Bild: Landkreis Bad Kreuznach ?? "Die Menschen wünschen, dass der Staat handelt und nicht ohnmächtig daneben steht" - Bettina Dickes
Bild: Landkreis Bad Kreuznach "Die Menschen wünschen, dass der Staat handelt und nicht ohnmächtig daneben steht" - Bettina Dickes

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