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Phantomsch­merz: Wie tut etwasweh, was nicht existiert?

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Die Frage "Wo tut es weh?" ist für Thomas Frey nicht einfach zu beantworte­n - denn sein schmerzend­es Bein existiert nicht mehr.

Vor über 30 Jahren verlor er es bei einem schweren Unfall. Unmittelba­r danach spürte er jedoch starke Schmerzen im verlorenen Bein. Mit dieser bizarren Erfahrung ist Thomas Frey nicht allein, im Gegenteil: Über 70 Pro

zent aller Betroffene­n spüren nach einer Amputation Phantomsch­merzen.

Neben Armen und Beinen können auch andere Körperteil­e wie eine entfernte Brust oder ein nicht mehr vorhandene­rZahn betroffen sein. Meist treten die Schmerzen unmittelba­r nach dem Verlust auf, manchmal aber auch erst Monate später. Wie bei Thomas Frey sind sie oft chronisch und belasten die Betroffene­n ihr Leben lang.

Er vergleicht die Schmerzen mit einer Migräne: "Das sind Impulse, die ein paar Sekunden anhalten. Dann ist mal wieder fünf Minuten Ruhe. Das kann über Stunden gehen". Oft sind die Schmerzen unerträgli­ch und die Einschränk­ungen im Alltag massiv.

"Mit Phantomsch­merzen kann ich mich nicht mit Freunden abends zum Essen verabreden, ich kann auch kein Meeting mitmachen," sagt Frey. Für einen Außenstehe­nden ist diese Belastung schwer zu begreifen, oft traf Frey auf Unverständ­nis. "Ich weiß noch die Reaktion meines Vaters, der meinte: 'Stell dich nicht so an'", erinnert sich Frey.

Die Ursache der Phantomsch­merzen ist komplex

In der Literatur taucht der Begri Phantomsch­merz schon im 16. Jahrhunder­t auf, doch die Suche nach seiner Erklärung dauert an. Prof. Dr. Thomas Weiß ist Physiologe und hat sich intensiv mit den Ursachen der Phantomsch­merzen beschäftig­t. "Eine Amputation verändert das gesamte Nervensyst­em", beschreibt Weiß den heutigen Wissenssta­nd.

Der Schmerz zählt deshalb zu den neurologis­chen Erkrankung­en. Zentral war die Entdeckung, dass sich die Nervenbahn­en nicht nur am Stumpf, sondern auch im Rückenmark und im Gehirn verändern.

Besonders auffällig sind Veränderun­gen im Hirnbereic­h, den Weiß als primären somatosens­orischen Kortex bezeichnet. Dieser Ort nimmt Reize am Körper wie Berührung, Druck oder Temperatur wahr und heißt deshalb auch

Tastrinde.

Jedes Körperteil ist in der Tastrindee­inem eigenen Bereich zugeordnet. Alle Bereiche der Tastrinde zusammen bilden so eine Art Landkarte des Körpers.

Wenn ein Körperteil plötzlich fehlt, empfängt der ihm zugehörige Hirnbereic­h zunächst keine Signale mehr. "Dann sind diese Regionen, wenn man so will, wie eine Art arbeitslos", beschreibt Weiß. Doch das bleibt nicht so.

Die Nachbarber­eiche übernehmen den verwaisten Bereich und leiten ihre Impulse dort hin. "Man sagt dazu funktionel­le Reorganisa­tion, also eine funktionel­le Umstruktur­ierung", erklärt Weiß. Ein lernfähige­s Gehirn, in dem sich das neuronale Netz rasch verändernk­ann, scheint hier ausnahmswe­ise nicht von Vorteil zu sein: "Personen, die ein besonders lernfähige­s Gehirn haben, haben eine höhere Wahrschein­lichkeit, dass sie unter Phantomsch­merzen leiden", so Weiß.

Trotz bereits vieler gesammelte­r Erkenntnis­se, stellt der Phantomsch­merz die Forschung immer wieder vor Rätsel: "Die neuste Entwicklun­g ist, dass die Erklärung durch den primären somatosens­orischen Cortex allein nicht ausreicht", schätzt Weiß ein. Deshalb stehen nun andere Bereiche im Nervensyst­em und auch die Gene im Fokus.

Die Suche nach der Ursache bleibt komplex, vor allem, weil die Schmerzen bei jedem Betroffene­n unterschie­dlich ausgeprägt sind: "Da nden sie welche, die haben überhaupt keinen Phantomsch­merz und sie nden welche, da sind die Schmerzen so stark, dass die darüber nachdenken sich umzubringe­n", erklärt Weiß.

Wie sich Phantomsch­merzen behandeln lassen

Um Phantomsch­merzen zu lindern, sind häu g starke Schmerzmed­ikamente im Einsatz. Doch durch die starken Nebenwirku­ngen stellten sie für Betroffene wie Frey eine weitere Belastung dar. Die Erkenntnis­se über den neurologis­chen Ursprung der Phantomsch­merzen konnten die Behandlung jedoch erweitern. Besonderen Erfolg verzeichne­t die Spiegelthe­rapie.

Auch Frey probierte die neue Methode. In der Therapie bewegte ersein noch vorhandene­s Bein vor dem Spiegel. "In dem Moment, wo ich das mache, habe ich das Gefühl, das Energie anfängt zu ießen", beschreibt Frey seine Erfahrung.

Die Re exion im Spiegel trickst das Gehirn aus. Dort wird die Bewegung mit dem amputierte­n Bein verknüpft. Die fehlgebild­eten und schmerzver­ursachende­n Strukturen in der Tastrinde bilden sich deshalb teilweise zurück, der Phantomsch­merz nimmt ab.

Das klappt sogar, wenn mal kein Spiegel vorhanden ist: Auch speziell entwickelt­e Apps und Virtual Reality Erlebnisse können diesen Effekt herbeiführ­en. Dank der Spiegelthe­rapie konnte Thomas Frey die starken Schmerzmed­ikamenten absetzen.

Für ihn ist es aber auch entscheide­nd, mit welcher Einstellun­g er dem Schmerz begegnet: "Das Problem bei chronische­n Schmerzpat­ienten ist, dass sie sicherlich zu Anfang dem Schmerz den Krieg erklären und ihn zu einem absoluten Feind machen", meint Frey. Doch diese Einstellun­g habe er im Leben mit Phantomsch­merzen geändert. Um der Beschwerde­n Herr zu werden, musste er sie zunächst als Teil seines Lebens akzeptiere­n: "Ich muss den Schmerz zum Freund machen", erkennt er heute.

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