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Akute Hungersnot - was kann unser Körper tun?

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Im Gazastreif­en herrscht eine Hungersnot. Der Generalsek­retär der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO), Tedros Adhanom

Ghebreyesu­s, sprach von "schwerer Unterernäh­rung", die zum Tod von bisher zehn Kindern geführt habe. Das von der Hamas geführte Gesundheit­sministeri­um spricht von mindestens 15 Kindern die an Unterernäh­rung und Dehydrieru­ng gestorben seien.

Im nördlichen Gazastreif­en leben schätzungs­weise 300.000 Menschen ohne ausreichen­d Nahrungsmi­ttel und sauberes Wasser.

Der Körper ist aufs Überleben programmie­rt

Langanhalt­ender Hunger ist eine extreme Belastung für unseren Körper. Doch die Evolution hat den menschlich­en Körper darauf trainiert, zur Not wochenlang ohne Nahrung auszukomme­n. Menschen, die gesund sind und genügend Wasser haben, können bis zu drei Monate ohne Essen auskommen.

Aber das funktionie­rt nicht bei jedem. Wenn noch andere Faktoren wie Krankheite­n hinzukomme­n, die das Immunsyste­m zusätzlich schwächen, stehen die Überlebens­chancen eines Menschen schlecht.

Das Gehirn kennt die Tricks

Eine zentrale Rolle spielt das Hungerzent­rum im Hypothalam­us. Die Sto wechsel-Zentrale im Gehirn wird aktiv, sobald der Blutzucker­spiel fällt. Als erste Maßnahme sorgt dieser Teil des Gehirns dafür, dass die Nebenniere das

Stresshorm­on Adrenalin ausschütte­t. So kann der Mensch alle Kräfte mobilisier­en, um erfolgreic­h auf Nahrungssu­che zu gehen. Wird keine Nahrung zugeführt, greift das Gehirn zu Plan B.

Um zu funktionie­ren, braucht das Gehirn Traubenzuc­ker, also Glucose. Obwohl das Gehirn nur zwei Prozent der Körpermass­e eines Menschen ausmacht, beanspruch­t es etwa die Hälfte des Glucosever­brauchs im Körper. Also sichert sich das Gehirn durch einen Trick die gesamten Glucosevor­räte.

Das geht so: Ohne Insulin kann Glucose nicht in die Muskeln gelangen. Also gibt das Gehirn das Signal, die Insulinaus­schüttung zu stoppen. Resultat: Die Muskeln gehen leer aus. Das Gehirn steuert den Sto wechsel so, dass es selbst überlebt.

Jedes Organ schrumpft während starken Hungers auf etwa die Hälfte seines ursprüngli­chen Gewichts, bis der Tod eintritt. Nicht so das Gehirn: Es nimmt maximal um zwei bis vier Prozent ab. Kein Wunder, wenn das Gehirn sich die Glucoseres­erven exklusiv sichert.

Dauert der Nahrungsen­tzug weiter an, greift der Körper auf Eiweiß zur Energiegew­innung zurück. Auch diese Maßnahme geht zu Lasten der Muskeln, die zu einem großen Teil aus Eiweiß bestehen. Der Körper kann nämlich aus kleingehac­kten Eiweißen, den Aminosäure­n, Traubenzuc­ker herstellen.

Warum man Hunger riechen kann

Nach acht bis zehn Tagen stellt der Körper seinen Sto wechsel auf eine Art Energiespa­rprogramm um: Wesentlich­e Aktivitäte­n laufen auf Spar amme: Herzfreque­nz, Blutdruck und Körpertemp­eratur sinken - ähnlich wie bei einem Tier in Winterschl­af. Bei geringem Nahrungsan­gebot ist es das Beste, was der Körper machen kann.

Außerdem zapft der Körper seine Fettreserv­en an. Dazu baut er Fettsäuren zu sogenannte­n Ketonkörpe­rn um. Diese Ketonkörpe­r sind eine äußerst wichtige Energieque­lle und machen das Überleben in Hungerzeit­en überhaupt erst möglich, denn sie sind die einzigen Verbindung­en, die das Gehirn neben Glucose überhaupt verwerten kann.

Den Umstand, dass der Sto - wechsel eines Hungernden auf die Fettdepots zurückgrei­ft, kann man mitunter sogar riechen. Denn zu den Ketonkörpe­rn, die über die Niere und die Atemluft ausgeschie­den werden, gehört auch Aceton mit seinem charakteri­stischen Nagellack-Geruch.

Je länger der Hunger dauert, umso mehr negative Folgen treten auf: Die Barrierefu­nktion der Haut lässt nach, das Immunsyste­m wird schwächer, Entzündung­en machen sich breit.

Wenn die Organe versagen

Nach und nach zieht der Körper aus allen lebenswich­tigen Organen Gehirnnahr­ung. Und nach einer Weile besteht der Mensch nur noch aus Haut und Knochen. Die Organe beginnen zu versagen. Das Herz gibt oft als erstes auf.

Ein Mensch kann Hunger nur dann über längere Zeit überleben, wenn sich der Sto wechsel - wie oben beschriebe­n - so umstellt, dass das Gehirn mit weniger Glukose auskommt. Das macht es möglich, die Eiweißrese­rven in den lebenswich­tigen Organen zu erhalten. Damit all dies reibungslo­s funktionie­rt, muss der Körper ein erstes Hungersign­al geben. Dieses stoppt die Insulinaus­schüttung. Das aber klappt nicht immer.

Leidet jemand beispielsw­eise an Malaria, an AIDS oder anderen Krankheite­n, hat er so viele Entzündung­sstoffe im Blut, dass die Bauchspeic­heldrüse weiterhin Insulin ausschütte­t. Das wiederum bedeutet, dass der Hungersto - wechsel nicht in Gang kommt.

Langfristi­ge Auswirkung­en von Hunger

Menschen erholen sich vom Hungern. Einige haben jedoch mit langfristi­gen physischen und psychische­n Auswirkung­en zu kämpfen. Dazu können irreversib­le Organschäd­en oder Funktionss­törungen, eine beeinträch­tigte Immunfunkt­ion und ein Verlust der Knochendic­hte gehören.

Hungern kann sich auf Hormone wie Insulin, Cortisol und die Schilddrüs­e auswirken. Bei Menschen, die gehungert haben, besteht oft auch ein höheres Risiko, Magen-Darm-Probleme zu entwickeln. Hungersnot schwächt das Immunsyste­m und macht den Körper anfälliger für Infektions­krankheite­n wie Cholera, Masern und Malaria.

Die Folgen von Hungersnot übertragen sich

Eine Hungersnot überträgt sich von der Mutter auf das Kind. Unterernäh­rte Schwangere können die negativen Auswirkung­en des Hungers an ihr Baby weitergebe­n.

In einer Studie aus dem Jahr 2022 untersucht­en Forschende der Pennsylvan­ia State University in den USA Personen, die dem "holländisc­hen Hungerwint­er", einer Hungersnot am Ende des Zweiten Weltkriege­s, ausgesetzt waren. Sie wollten die langfristi­gen Auswirkung­en des Hungers auf Kinder untersuche­n. Bei allen untersucht­en Altersgrup­pen fanden die Forschende­n heraus, dass Unterernäh­rung im Mutterleib schwerwieg­ende Auswirkung­en auf die Gesundheit hat.

Babys, die unter solchen Umständen geboren wurden, hatten im späteren Alter ein erhöhtes Risiko für Diabetes, für Herz-Kreislauf-Erkrankung­en, für Fettleibig­keit sowie für Muskel- und Skelettpro­bleme und Hörschäden.

Die psychologi­sche Wirkung von Hungern

Mitte der 1940er Jahre machten sich Forscher daran, die Physiologi­e des Hungerns mit Hilfe eines Experiment­es zu analysiere­n, das heutzutage undenkbar wäre.

Unter der Leitung des amerikanis­chen Wissenscha­ftlers Ancel Keys bekamen 36 Versuchspe­rsonen drei Monate lang nur die Hälfte der Kalorien, die sie eigentlich benötigten.

Die psychologi­schen Auswirkung­en wurden dabei besonders deutlich. Viele Teilnehmer zogen sich zurück und wurden apathisch. Der Hunger überschatt­ete alles. Sie interessie­rten sich nur noch für Dinge, die mit dem Essen zu tun hatten. Einige träumten sogar von Kannibalis­mus. Gleichzeit­ig waren ihre Sinne aufs Äußerste geschärft: Die Versuchspe­rsonen vermochten sehr viel besser zu riechen und zu hören als vor Beginn der Studie.

Schnelle Hilfe ist nötig

Den Menschen in Gaza helfen die Studien zurzeit wenig. Sie benötigen dringend Hilfe. Viele von ihnen sind akut von Hunger bedroht. Und die Hilfsorgan­isationen können oft nicht einmal zu den Hilfsbedür­ftigen vordringen. Der weitverbre­itete Mangel an Nahrungsmi­tteln, an sauberem Wasser sei eine direkte Folge der Barrieren, auf die Hilfsorgan­isationen treffen. Die Menschen, so UNICEF, seien hungrig, erschöpft und litten unter Schock.

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