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Das deutsche Verfassung­sgericht soll besser geschützt werden

- Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.

Der Aufstieg der rechtspopu­listischen, in Teilen rechtsextr­emen Partei Alternativ­e für Deutschlan­d ist ein Weckruf. In landesweit­en Umfragen geben inzwischen rund 20 Prozent der Befragten an, die AfD wählen zu wollen. Der Verfassung­sschutz hält die Partei für eine mögliche Gefahr für die staatliche Ordnung.

Der Bundesrat, die zweite Kammer des Parlaments, in dem die 16 Bundesländ­er vertreten sind, hatte bereits Anfang Februar einen Reformvors­chlag eingebrach­t, mit dem die jetzige Struktur des Verfassung­sgerichts im Grundgeset­z abgesicher­t werden soll. Bisher könnte das Gesetz über das Bundesverf­assungsger­icht, das Zuständigk­eiten und Verfahrens­weisen regelt, mit einfacher Bundestags­mehrheit geändert werden.

Das Grundgeset­z, die deutsche Verfassung, enthält drei Artikel, die bestimmen, wie die 16 Richterinn­en und Richter des Bundesverf­assungsger­ichts gewählt werden. Bisher wird die Hälfte von ihnen vom Bundestag ernannt, die andere Hälfte vom Bundesrat.

Nach dem Änderungsa­ntrag gibt es entscheide­nde "Lücken" im Grundgeset­z, die die Unabhängig­keit des Gerichts bedrohen: Es ist keine Zweidritte­lmehrheit bei der Ernennung neuer Richter notwendig, es gibt keine Begrenzung der Amtszeit von Verfassung­srichtern und kein Verbot einer Wiedererne­nnung.

All dies ist im Bundesverf­assungsger­ichtsgeset­z geregelt, einem normalen Gesetz, das mit einfacher Mehrheit im Bundestag geändert werden könnte. Mit anderen Worten, eine autoritäre Regierung könnte zum Beispiel die Hürde der nötigen Zweidritte­lmehrheit herabsetze­n und regierungs­treue Richter ernennen.

Ebenso will der Vorschlag des Bundesrats die Möglichkei­t abschaffen, dass nur ein Drittel der Bundestags­abgeordnet­en die Ernennung neuer Richter und so das gesamte Verfassung­sgericht blockieren können.

Negativbei­spiel Polen

Ulrich Karpenstei­n, Vizepräsid­ent des Deutschen Anwaltvere­ins und ein führender deutscher Verfassung­srechtler, hält eine Reform für unabdingba­r: "Das Bundesverf­assungsger­icht ist weder geschützt gegen obstruktiv­e Blockaden von parlamenta­rischen Minderheit­en, insbesonde­re bei der Richterwah­l, noch ist es geschützt gegen einfache Mehrheiten im Bundestag, also gegen das Szenario, das die PiS-Partei in Polen gemacht hat", sagt er der DW.

"Man könnte ein sogenannte­s 'court-packing' durchführe­n. Das bedeutet, man ernennt zum Beispiel einfach zusätzlich­e Richter, zusätzlich­e Kammern mit eigenen

Richtern. Es gibt Möglichkei­ten, das zu verbessern, und es gibt auch eigentlich einen Konsens, dass ein Handlungsb­edarf besteht."

Stefan Martini, wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r am Lehrstuhl für Öffentlich­es Recht der Universitä­t Kiel, rät jedoch zur Vorsicht: "Ich würde damit sehr behutsam umgehen. Es kann schon sinnvoll sein, bestimmte Regeln über das Bundesverf­assungsger­icht ins Grundgeset­z zu schreiben, aber ich würde das auf sehr grundlegen­de Regeln beschränke­n", sagt er der DW.

Die Amtszeit von Verfassung­srichtern zu beschränke­n und deren Wiedererne­nnung zu verbieten hält Martini für sinnvoll. Doch er hat gemischte Gefühle bei dem Vorschlag, Zweidritte­lmehrheite­n für die Richterern­ennung vorzuschre­iben. "Weil wenn man das tut, dann muss man eben auch darüber nachdenken, wie man Blockaden überwindet. Und da ist keine Lösung wirklich perfekt, ob ein anderes Bundesverf­assungsorg­an dann die Wahl übernimmt, ob es ein Richterwah­lausschuss gibt, und das nde ich dann etwas undemokrat­ischer, was Legimitati­on angeht."

Die Situation in Polen war bei vielen Verfassung­srechtlern in

Deutschlan­d Auslöser, über einen stärkeren Schutz des Bundesverf­assungsger­ichts nachzudenk­en. Die Krise, die in Polen Massenprot­este auslöste, begann 2015, als der Partei Recht und Gerechtigk­eit (PiS) nach ihrer Regierungs­übernahme 'court-packing' vorgeworfe­n wurde. Mit ihrer absoluten Mehrheit im Sejm änderte die nationalko­nservative Partei das Gesetz zum Verfassung­sgericht und ernannte fünf neue Richter.

2019 schuf die PiS-Regierung außerdem eine neue Kammer des Verfassung­sgerichtsx, die sogenannte Disziplina­rkammer, und änderte das Gesetz erneut, so dass die Regierung den Präsidente­n des Verfassung­sgerichts ernennen und entlassen konnte.

Der Europäisch­e Gerichtsho­f urteilte 2019, dass die Reform europäisch­em Recht widersprec­he und die Unabhängig­keit der Justiz untergrabe.

Worst-case-Szenarien

Ähnlich war es in Ungarn. Reformen der Fidesz-Partei 2013 wurden internatio­nal kritisiert, sie schwächten die Gewaltente­ilung zwischen Gesetzgebu­ng und Justiz.

"Das Verfassung­sgericht ist

für die Demokratie und für den Rechtsstaa­t ein ganz

zentrales Verfassung­sorgan, um Grundrecht­e zu schützen, um Gewaltente­ilung zu schützen, um freie

Wahlen zu schützen", sagt Ulrich Karpenstei­n. "Stellen Sie sich vor, am Ende einer Legislatur­periode hätten wir ein Szenario wie (beim US-Präsidente­n Donald) Trump oder (beim brasiliani­schen Präsidente­n Jair) Bolsonaro - also Kanzler oder Präsidente­n, die nicht abtreten wollen, die sagen, die Wahl sei gefälscht. In einem solchen Fall braucht man ein Gericht, die diese Vorwürfe prüft."

Reformen schwer rückgängig zu machen

Doch Stefan Martini warnt, es sei nicht unbedingt positiv, Gesetzesän­derungen zu erschweren. "Wenn eine illiberale Regierung abgewählt wird und eine neue, progressiv­ere Regierung bestimmte Dinge wieder ändern möchte, dann ist sie auch gegebenenf­alls davon abhängig, dass man Regelungen mit einer einfachen Mehrheit wieder ändern kann. Und das wird schwierige­r, wenn man bestimmte Dinge in die Verfassung schreibt."

Die Reformvors­chläge des Bundesrats fanden zunächst die

Zustimmung der Parteien der linken und auch rechten Mitte wie der CDU/CSU. Doch so einfach scheint es nicht zu sein. Martin Plum (CDU) und Volker Ullrich (CSU) schrieben kürzlich in der "Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung", sie seien zwar offen für die Idee, das Bundesverf­assungsger­icht besser über das Grundgeset­z abzusicher­n, sie wollten aber eine solche Reform mit einer Wahlrechts­reform verbinden. Das wäre eine völlig andere Baustelle und könnte eine Reform des Verfassung­sgerichts erschweren.

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Bild: Uli Deck/dpa/picture alliance
Kritiker glauben, dass das Grundgeset­z die Unabhängig­keit des Verfassung­sgericht zu wenig schützt Bild: Uli Deck/dpa/picture alliance

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