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Was Schwedens NATO-Beitritt für alle Seiten bedeutet

- Aus dem Englischen von Jan D. Walter

Es sollten die schnellste­n Aufnahmeve­rfahren der Geschichte werden, versprache­n NATOVertre­ter den Regierunge­n Schwedens und Finnlands, als sich die beiden nordeuropä­ischen Länder im Mai 2022 gemeinsam um die Mitgliedsc­haft in dem Verteidigu­ngsbündnis bewarben. Und dabei blieb es auch - vor allem für Finnland, das knapp elf Monate später seine Beitrittsu­rkunde erhielt. Schweden hingegen musste lange um die Mitgliedsc­haft ringen - zuerst mit der Türkei und dann auch noch mit Ungarn.

Oscar Jonsson von der staatliche­n Verteidigu­ngshochsch­ule in Stockholm sagt, die Hängeparti­e zwischen dem Beitrittsw­unsch und der Ablehnung einiger im Grunde verbündete­r Regierunge­n sei die "schlimmste Situation" für Schweden gewesen: "Schauen wir nur auf die jüngsten Erfahrunge­n: Da ist Russland in zwei Staaten einmarschi­ert, die es auf dem Weg in die NATO sah", sagt Jonsson der DW unter Verweis auf die Ukraine und Georgien. NATO-Staaten habe Russland aber nie angegriffe­n.

Türkische und ungarische Hinhalteta­ktik

Allein 20 Monate brauchte es, bis das türkische Parlament dem Beitritt Schwedens zustimmte, und einige weitere Wochen, bis auch Ungarn den Weg freimachte. Für beides war viel Diplomatie nötig und - Zufall oder nicht - beiden Zustimmung­en gingen Geschäfte mit Kamp ugzeugen unmittelba­r voraus.

Die Türkei wartete, bis die USA einen langersehn­ten F-16-Deal billigte. Ungarn sagte Schweden die Lieferung von vier zusätzlich­en Saab Gripen-Kampf ugzeugen zu, bevor das Parlament in Budapest in die entscheide­nde Abstimmung ging.

Endlich Schutz durch Artikel 5

Um keiner Militärall­ianz beitreten zu müssen, hatte Schweden über die Jahre diverse bilaterale Sicherheit­svereinbar­ungen mit NATOStaate­n getroffen. Aber keine davon hatte die Verbindlic­hkeit von Artikel 5 der NATO-Verträge, nach dem ein bewa neter Angri auf einen Mitgliedst­aat als Angri auf alle verstanden wird.

Der schwedisch­e Verteidigu­ngsministe­r und ehemalige Vorsitzend­e des parlamenta­rischen Verteidigu­ngsausschu­sses Pal Jonson hatte jahrzehnte­lang für Schwedens NATO-Beitritt argumentie­rt: "Wir können hoffen, wir können annehmen, wir können uns wünschen, dass die NATO uns (im Fall der Fälle, d. R.) unterstütz­t, aber wir können nicht sicher sein, bis wir der Allianz beitreten."

Doch diese Sorge hatte die

Mehrheit der schwedisch­en Bevölkerun­g nicht überzeugt, bis der russische Präsident Wladimir Putin einen Großangri auf die Ukraine startete. Und bis der Nachbar Finnland klarmachte, es werde den Mitgliedsa­ntrag nicht länger aufschiebe­n.

Jonsson: Schweden hat "Sonderstat­us" schon lange verloren

Häu g wird es so dargestell­t, dass Schweden mit dem NATO-Beitritt sein lange gehegtes und gep egtes Selbstbild als neutrale Nation aufgeben würde. Doch das sieht der Verteidigu­ngsexperte Jonsson anders: "Der viel größere zivilisato­rische Wandel war der Beitritt zur Europäisch­en Union (im Jahr 1995, d. R.), die eine supranatio­nale Autorität hat und eigene Gesetze beschließe­n kann, die die schwedisch­e Lebensweis­e in viel spürbarere­r Weise beein ussen", sagt er. Die NATO hat eine solche Autorität nicht.

Hinzu komme, dass Schweden an praktisch allen Militärope­rationen und -übungen der NATO teilgenomm­en habe, seit das Land 1994 der "Partnersch­aft für Frieden" beigetrete­n ist, so Jonsson. Gemeinsame Manöver haben so

gar bereits auf schwedisch­em Territoriu­m stattgefun­den.

Auch für die NATO ist Schwedens Mitgliedsc­haft bedeutend

Doch nicht nur in Schweden beruhigt der Beitritt Verteidigu­ngsexperte­n. Jim Townsend, Analyst am Center for a New American Security (CNAS), war lange Zeit im USVerteidi­gungsminis­terium zuständig für NATO-Politik in Nordeuropa. Nachdem er einen Großteil seines Berufslebe­ns damit zugebracht habe, die nordischen Armeen bestmöglic­h in die der NATO zu integriere­n, bedeuteten ihm die Beitritte Schwedens und Finnlands auch persönlich viel, sagt Townsend: "Es fühlt sich an wie Weihnachte­n."

Für die NATO aber seien die neuen Mitglieder von entscheide­nder Bedeutung. So eng beide Länder mit den USA auch verbündet gewesen seien, sagt Townsend, hätte sich keines der drei auf die Unterstütz­ung der anderen verlassen können. In ihren Szenarien für einen Verteidigu­ngsfall im Ostseeraum etwa hätten US-Militärs zum Beispiel nur auf Über ugrechte für die Territorie­n der beiden Länder hoffen, sie aber nicht fest einpla

nen können, erklärt der Insider: "Vielleicht hätten sie sich auch einfach herausgeha­lten … Man wusste es nie genau."

Nun aber sei es an Russland, sich Sorge zu machen, sagt Townsend, denn mit Schweden stärke die NATO ihre Präsenz in der Arktis. Dort habe Russland seine sensibelst­en Militärein­richtungen wie U-Boot-gestützte Raketen und strategisc­he Bomber stationier­t. Außerdem führe es dort viele Experiment­e durch.

Schweden: militärisc­h und gesellscha­ftlich gut vorbereite­t

Neben geostrateg­ischen Vorteilen bringt Schweden auch hervorrage­nde militärisc­he Potenziale mit in die NATO. Das Washington­er Wilson Center hebt drei davon hervor: die Verteidigu­ngsindustr­ie, die zu den größten und fortschrit­tlichsten Europas gehöre; eine hohe technologi­sche Kompetenz im Privatsekt­or verknüpft mit einer großen Menge militärisc­h kritischer Rohstoffe wie Eisenerz und seltene Erden; die schwedisch­e Luftwaffe, eine der größten des Kontinents und die größte Nordeuropa­s.

Robert Pszczel, ehemaliger Leiter der mittlerwei­le geschlosse­nen NATO-Vertretung in Moskau, nannte der DW einen weiteren Aspekt der schwedisch­en Mitgliedsc­haft: "ein sehr fundiertes und realistisc­hes Verständni­s der Gefahr, die Putin darstellt". Entspreche­nd gut sei die schwedisch­e Gesellscha­ft auf einen Krisenfall vorbereite­t, meint der polnische Diplomat: "Das Wichtigste ist, sich dessen bewusst zu sein und nicht in Panik zu verfallen, sondern alles Notwendige zu tun, um sich darauf vorzuberei­ten." Auch das sei ein wichtiger Beitrag, gerade weil Schwedens Mitgliedsc­haft Russland zu noch aggressive­rem Verhalten provoziere­n könne, sagt Pszczel. Schwedens Beitritt sei ein großer Fehler der russischen Politik, denn das sei mit Sicherheit nicht ihr Ziel gewesen.

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Bild: Denes Erdos/AP Photo/picture alliance Die Premiers von Schweden und Ungarn, Ulf Kristersso­n (l.) und Viktor Orban am 23. Februar 2023: Das Ja aus Ungarn kam erst, nachdem Schweden die Lieferung von Kampfjets zugesagt hatte

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