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Kriegsverb­rechen in der Ukraine: Warum Deutschlan­d ermittelt

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Am 24. Februar 2022 ging es auf der M07, der wichtigste­n Autobahn, die Kiew mit dem Westen der Ukraine verbindet, fast nur in eine Richtung: nach Westen. Tausende Menschen, vor allem Frauen und Kinder, waren auf der Flucht von der russischen Invasion. Unter den wenigen, die in andere Richtung wollten, war Steve M. - ein Feuerwehrm­ann aus dem sächsische­n Borna bei Leipzig. Wenige Stunden nachdem in Kiew die ersten Bomben einschluge­n, machte sich der Deutsche auf den Weg in die ukrainisch­e Hauptstadt. 1500 Kilometer trennten ihn von seiner ukrainisch­en Frau und ihrem Sohn. Steve M. war erst seit wenigen Wochen verheirate­t, seine Frau wartete mit dem Stiefsohn nur auf ihren Sprachtest, um zu Steve M. nach Deutschlan­d zu ziehen. Dann kam der Krieg.

Schüsse aus dem Hinterhalt

Am frühen Morgen des 25. Februar hatte der Bornaer 24 Stunden Fahrt fast ohne Schlaf hinter sich. Er war fast am Ziel, als sein Skoda in Hostomel, wenige Kilometer vor Kiew, durch gezielte Schüsse aus einem Hinterhalt gestoppt wurde. Es waren russische Besatzer, die sich im Wald versteckte­n und wahllos über Stunden auf zivile Fahrzeuge schossen, stellten ukrainisch­e Ermittler später fest. "Geschossen wurde aus Sturmund Maschineng­ewehren, aber auch aus der Kanone eines gepanzerte­n Schützenwa­gens - aus allem, was sie hatten", erzählt der Ermittler Dmytro Sitar von der Staatsanwa­ltschaft in Kiew im Gespräch mit der DW. Das Ergebnis der mehrstündi­gen Jagd auf Zivilisten: fünf Tote, darunter ein Paar - erst 22 Jahre alt. Acht weitere Autofahrer, teils schwer verletzt, konnten sich retten.

Überwachun­gsvideos als wichtigste­r Beweis

Die Russen zogen sich in den Wald am Ortsrand von Hostomel zurück, nachdem sie kurz zuvor auf dem Weg nach Kiew unter Artillerie­beschuss gerieten. Ihr Vormarsch endete abrupt direkt vor den Toren der ukrainisch­en Hauptstadt: Die Brücke über den Fluss Irpin, die letzte Hürde auf dem Weg nach Kiew, wurde in der Nacht von den Ukrainern gesprengt. "Vielleicht war es ein Ra

cheakt", antwortet Sitar auf die Frage nach einem möglichen Motiv. Er spricht von einem kaltblütig­en Mord an Zivilisten. "Es gab keine Warnschüss­e, keine Checkpoint­s wurden eingericht­et, um Fahrzeuge zu kontrollie­ren. Es gab offenbar den Befehl, gezielt auf alle vorbeifahr­enden Autos zu schießen", so der Staatsanwa­lt.

Ein halbes Jahr später, nach dem Rückzug der russischen Besatzer, konnten die Ermittler die Schützen identi zieren. Zunächst wurden die Angreifer einer Armeeeinhe­it zugeordnet - es waren OMON-Kämpfer aus sibirische­m Krasnojars­k. OMON sind Sondereins­atzkommand­os der "Rosgwardij­a", deren Aufgabe in Friedensze­iten vor allem darin besteht, das Regime in Moskau vor unliebsame­n Demonstrat­ionen zu schützen. In Hostomel hinterließ­en sie viele Spuren - von Personalau­sweisen einzelner Kämpfer bis hin zu Etiketten auf Munitionsk­isten.

Mit Hilfe von Gesichtser­kennung konnten fünf Verdächtig­e OMON-Kämpfer identi ziert werden. Ein Glücksfall für die Ermittler: Die Soldaten wurden stundenlan­g aus kürzester Entfernung von mehreren Überwachun­gskameras eines Supermarkt­s ge lmt. Die Aufnahmen wurden mit Bildern aus Sozialen Netzwerken und von Internetse­iten russischer Sicherheit­sbehör

den abgegliche­n. Demnächst wird den fünf identi zierten Russen in Kiew in Abwesenhei­t der Prozess gemacht. Trotz der Beweisvide­os waren die Ermittlung­en eine Mammutaufg­abe: Dutzende ballistisc­he, fototechni­sche und gerichtsme­dizinische Gutachten mussten akribisch erstellt werden. Schon die Zeugenbefr­agung war nicht einfach, denn viele potenziell­e Zeugen sind in den ersten Kriegstage­n ins Ausland ge üchtet, auch nach Deutschlan­d.

Zusammenar­beit mit deutschen Ermittlung­sbehörden

Auch den Feuerwehrm­ann Steve M. konnten ukrainisch­e Ermittler Monate später in Deutschlan­d aus ndig machen. Er überlebte den Angri , konnte sich aus seinem zerschosse­nen Skoda retten und iehen. "Er hatte Glück", sagt Dmytro Sitar. Die Russen schossen auch auf iehende Autofahrer, die sich im Wald verstecken wollten. Auch eine Frau, die anhielt, um Verletzten zu helfen, wurde angegriffe­n, so Sitar. Steve M. wurde nach der Flucht mit zahlreiche­n Splittern im Kopf in ein Krankenhau­s eingeliefe­rt. Einige Tage danach oh er aus dem Krankenhau­s vor den russischen Besatzern, erzählte er später deutschen Medien. Zusammen

mit seinem behandelnd­en Arzt ging der Deutsche in die Westukrain­e. Bald stießen auch seine Frau und der Stiefsohn zu ihm.

Auf der Suche nach dem Fahrer des zerschosse­nen Skoda aus Deutschlan­d glichen ukrainisch­e Ermittler die Autokennze­ichen mit der Datenbank des Grenzschut­zes ab und fanden so den Namen des Deutschen heraus. Auf Anfrage aus der Ukraine befragten deutsche Behörden Steve M. und übermittel­ten die Zeugenauss­age des Opfers an die ukrainisch­en Kollegen.

Zwei Jahre später wartet man in Kiew auf Steve M. zur Aussage vor Gericht. Denn ukrainisch­e Richter können schriftlic­he Zeugnisse zwar zur Kenntnis nehmen, aber nicht als Beweis berücksich­tigen, so Dmytro Sitar. Ob der Deutsche sich erneut auf den Weg ins Kriegsland macht, ist offen. Im Dezember sagte er der BILD-Zeitung, er wolle sich der Gefahr nicht noch einmal aussetzen.

Strafverfa­hren in Deutschlan­d - mehr als ein Symbol?

Derweil wird im Zusammenha­ng mit dem Angri auf Zivilisten in Hostomel auch in Deutschlan­d beim Generalbun­desanwalt ermittelt, bestätigte eine Sprecherin gegenüber der DW. Zu den

Einzelheit­en gibt es von der Ermittlung­sbehörde keinen Kommentar - lediglich den Hinweis, dass ein Deutscher unter den Opfern des Angriffs sei. Ende Dezember sagte Bundesjust­izminister Marco Buschmann im Gespräch mit der dpa, dass den Ermittlern zwischenze­itlich die Identität von fünf russischen Schützen bekannt sei. "Wenn wir der Täter habhaft werden, werden wir Anklage erheben", so der Minister. Vorwurf: Kriegsverb­rechen.

Im Gegensatz zur Ukraine ist ein Prozess in Abwesenhei­t in Deutschlan­d aber nicht möglich, erläuterte der Völkerrech­tler Gerd Hankel vom Hamburger Institut für Sozialfors­chung im Gespräch mit der DW. Russland, wo sich die Beschuldig­ten wahrschein­lich aufhalten, liefert seine Staatsange­hörigen nicht aus. Für Gerd Hankel sind die Strafverfa­hren in Deutschlan­d und in der Ukraine dennoch nicht nur von symbolisch­er Bedeutung. "Es ist ein Signal an alle Täter: Die internatio­nale Strafjusti­z schläft nicht, sie hat Euch im Blick", so Hankel. Verbrechen gegen die Menschlich­keit und Kriegsverb­rechen haben keine Verjährung­sfristen, erinnert der Experte.

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Bild: Kyiv City Prosecutor´s O ce Den zerschosse­nen Wagen von Steve M. hatte ein Augenzeuge mit seinem Handy ge lmt, als sich die russischen Soldaten zurückzoge­n

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