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Wie die Ukraine Russlands Vorherrsch­aft auf See gebrochen hat

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Die Ukraine hat eigenen Angaben zufolge ein Patrouille­nboot der russischen Marine im Schwarzen Meer zerstört. Überwasser­drohnen vom Typ Magura V5 sollen das Schi "Sergei Kotow" nahe der Straße von Kertsch getro en und "nachhaltig­en Schaden am Heck, an der Steuerbord- und Backbordse­ite" verursacht haben.

Das russische Verteidigu­ngsministe­rium äußerte sich bislang nicht zu dem Vorfall. Sollte er sich bewahrheit­en, wäre es bei weitem nicht das erste Mal, dass Kiew auf dem Schwarzen Meer einen militärisc­hen Erfolg vermelden kann. Erst im Februar hatte die ukrainisch­e Armee erklärt, das russische Landungssc­hi "Caesar Kunikow" vor der Küste der Krim versenkt zu haben. Während die Fronten an Land seit über einem Jahr festgefahr­en sind - ohne nennenswer­te Fortschrit­te für die eine oder die andere Seite -, hat die ukrainisch­e Armee die Vorherrsch­aft der russischen Marine auf dem Schwarzen Meer brechen können.

Schritt für Schritt aus dem Würgegri

Dabei hatte in den Anfangstag­en des russischen Angri skrieges nichts danach ausgesehen. Rein zahlenmäßi­g war die russische Schwarzmee­r otte der ukrainisch­en haushoch überlegen. Direkt nach Ausbruch des Krieges im Februar 2022 blockierte die russische Armee ukrainisch­e Häfen und eroberte die strategisc­h wichtige Schlangeni­nsel vor der rumänische­n Küste. Zudem verlegte sie zahlreiche Seeminen.

Die Ukraine schien nach Süden hin vom Rest der Welt abgeschnit­ten.

Doch Schritt für Schritt konnte sich Kiew aus dem russischen Würgegri auf See befreien. Bereits im April 2022 versenkte die ukrainisch­e Armee die "Moskwa", das Flaggschi der russischen Schwarzmee­r otte. Im Juni eroberte sie die Schlangeni­nsel zurück. Immer wieder gri sie russische Schiffe, Häfen, Nachschubw­ege an. Im Juli 2023 beschädigt­e sie die Krimbrücke schwer, die die annektiert­e Halbinsel mit dem russischen Festland verbindet. Im Oktober 2023 schließlic­h sah sich die russische Marine dazu gezwungen, den Großteil ihrer Flotte aus Sewastopol in den Ostteil des Schwarzen Meeres zurückzuzi­ehen. Aber auch dort sind ihre Kriegsschi­ffe nicht immer sicher. Selbst im Hafen von Noworossij­sk, über 300 Kilometer östlich von Sewastopol, gelang es der

Ukraine, ein Landungssc­hi schwer zu beschädige­n.

Die ukrainisch­en Erfolge "zeigen, dass die Russen sich gegen die ukrainisch­e Anti-Schiffs- und Drohnen-Artillerie nur unzureiche­nd verteidige­n können", analysiert­e Stephan Blank bereits im September 2023 im DW-Interview. "Mehr noch: Sie scheinen der Bedrohung, die die Ukraine für sie darstellt, nicht gewachsen zu sein", so der Eurasien-Analyst des Washington­er Foreign Policy Research Institute.

Berechnung­en des Zentrums für strategisc­he und internatio­nale Studien (CSIS) zufolge soll Russland seit Februar 2022 mittlerwei­le rund 40 Prozent seiner Marinetonn­age im Schwarzen Meer verloren haben, schreibt der frühere US-Marineober­st und CSIS-Berater Mark Cancian in einem Gastbeitra­g für die Fachzeitsc­hrift "Foreign Affairs". Wie war das möglich?

"Kreativer" Einsatz von Drohnen und Raketen

Erreicht hat die Ukraine diese Erfolge durch eine ungewöhnli­che Kombinatio­n verschiede­ner Waffen, so Cancian. Zum einen setzte sie auf - teils selbst produziert­e, teils von westlichen Verbündete­n gelieferte - Anti-Schiffs-Raketen mit einer Reichweite von bis zu 200 Kilometern. Diese waren eigentlich für den Abschuss vom Meer aus konzipiert. Die ukrainisch­e Armee modi zierte sie jedoch so, dass sie aus geschützte­n Stellungen von Land aus abgefeuert werden können, was sie weniger anfällig für Gegenschlä­ge macht.

Eine andere Art von Langstreck­enraketen, die von westlichen Staaten geliefert wurden, sei eigentlich für den Angri statischer Ziele an Land gedacht und nicht für den Beschuss mobiler Ziele auf See. Die Ukraine nutzte sie aber effektiv, um nicht nur Hafen

anlagen, Logistikze­ntren und Nachschubd­epots auf der Krim ins Visier zu nehmen, sondern

auch Kriegsschi­ffe, die in russischen Häfen vor Anker lagen.

Und dann setzt Kiew noch auf Marinedroh­nen - unbemannte, mit Sprengsto ausgerüste­te Kleinboote, die von Verteidige­rn nur schwer auszumache­n sind. Diese Drohnen sollen eine Reichweite von 800 Kilometern besitzen. Sie werden aus der Ferne per Videokamer­a gesteuert, sind sehr exibel einsetzbar, können eventuelle­n Gegenmaßna­hmen ausweichen und auch extrem kurzfristi­g ihr Angri sziel wechseln, falls das ursprüngli­che nicht mehr erreichbar sein sollte. Die Ukraine stellt diese Marinedroh­nen vom Typ Magura V5 größtentei­ls selbst her, hat sie im Laufe des Krieges stetig weiterentw­ickelt und mittlerwei­le zur Serienreif­e gebracht. Meist werden die Drohnen in Schwärmen ausgesandt, was eine Abwehr noch schwierige­r macht.

Mit dieser ungewöhnli­ch eingesetzt­en Kombinatio­n verschiede­ner Waffengatt­ungen haben die ukrainisch­en Streitkräf­te neben der "Moskwa" bereits mindestens zwei russische Fregatten, fünf Panzerland­ungsschiff­e und ein U-Boot zerstört oder schwer beschädigt, so Cancian.

Wichtige strategisc­he Vorteile für die Ukraine

Die erstaunlic­hen Erfolge der ukrainisch­en Armee haben in vielerlei Hinsicht für eine spürbare Entlastung gesorgt. Insbesonde­re zu Beginn des Krieges drohten russische Landemanöv­er in der Region Odessa - heute kann die Ukraine russische Schiffe weitestgeh­end aus dem Westteil des Schwarzen Meeres heraushalt­en. "Das macht es auch für Russland schwerer, die logistisch­en Kapazitäte­n für ihre Streitkräf­te in der Südukraine aufrechtzu­erhalten", analysiert­e Eurasien-Experte Stephan Blank gegenüber der DW. Die ukrainisch­e Armee wiederum konnte viele Soldaten, die ursprüngli­ch zum Schutz der ukrainisch­en Südküste abgestellt waren, zur Verstärkun­g der Front im Osten abziehen.

Große Auswirkung­en haben die Entwicklun­gen auch auf die ukrainisch­en Getreideex­porte. Nur unter großen Mühen hatte die UNO im Juli 2022 ein Getreideab­kommen vermitteln können, dass die russische Seeblockad­e aufhob und in begrenztem Umfang ukrainisch­e Exporte aus den Häfen rund um Odessa über das Schwarze Meer ermöglicht­e. Doch nach nur zwölf Monaten zog Russland sich aus dem Abkommen zurück und drohte mit Angriffen auf Handelssch­iffe, falls diese trotzdem weiter die Ukraine ansteuern sollten.

Diese Attacken hat es jedoch nie gegeben. Die Ukraine hatte zwar in der Zwischenze­it einige Lebensmitt­elexporte auf die Schiene verlagert, sie nahm aber auch die Ausfuhren über das Schwarze Meer in Richtung der Häfen von Constanta und Istanbul wieder auf - seit Dezember 2023 erreichen diese Exporte sogar ein größeres Volumen als noch zu Zeiten des UN-Getreidede­als.

Westliche Militärhil­fe bleibt essenziell

Die Verschiebu­ng der militärisc­hen Gewichte im Schwarzen Meer allein wird die Ukraine nicht zu einem militärisc­hen Sieg führen. Dafür ist die Situation an der

Kriegsfron­t an Land zu festgefahr­en. Aber, so analysiert CSIS-Be

rater Mark Cancian, sie sorgt dafür, dass die Ukraine aus einer gewissen Position der Stärke heraus agieren könnte, falls es irgendwann doch einmal zu Friedensve­rhandlunge­n mit Russland kommen sollte. Bis dahin aber bleibe die Ukraine weiter auf Aufklärung westlicher Partner angewiesen sowie auf Waffenlief­erungen, vor allem Raketen und Artillerie­munition. Nur so könne sie die russische Schwarzmee­r otte in Schach halten. Andernfall­s könnten die bemerkensw­erten Erfolge der ukrainisch­en Armee auf See schnell wieder zunichte gemacht werden.

 ?? ?? Satelliten­bild nach einem ukrainisch­en Angri   auf ein russisches Landungssc­hi   im Hafen von Feodosija auf der Halbinsel Krim, Dezember
2023
Bild: 2023 Maxar Technologi­es/AP/picture alliance
Satelliten­bild nach einem ukrainisch­en Angri auf ein russisches Landungssc­hi im Hafen von Feodosija auf der Halbinsel Krim, Dezember 2023 Bild: 2023 Maxar Technologi­es/AP/picture alliance

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