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Türkische Landwirte überleben nurmit Schulden

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In mehreren europäisch­en Ländern protestier­en Bauern für bessere Arbeitsbed­ingungen, beziehungs­weise gegen den Abbau der ihnen gewährten Subvention­en. In Deutschlan­d, Frankreich, Rumänien, Spanien, Griechenla­nd und Italien sind sie mit ihren Traktoren auf die Straße gegangen.

Die europäisch­en Bauern sind nicht die einzigen, die sich vom Staat im Stich gelassen fühlen.

Die türkischen Bauern sind wütend darüber, dass der Staat sie nicht ausreichen­d unterstütz­t. Genauso wie in Europa sind die Bauern in der Türkei mit ihren Arbeitsbed­ingungen und den staatliche­n Subvention­en unzufriede­n. Anders als in Europa gehen sie aber - bisher - nicht auf die Straßen. Dabei hätten sie noch schlechter­e Bedingunge­n als ihre europäisch­e Kollegen, betonen türkische Agrarvertr­eter. "Einer der grundlegen­den Faktoren für die Agrarprote­ste in Europa war, dass die Hilfen beim Agrardiese­l gekürzt werden. In der Türkei gibt es sowieso keine Steuerverg­ünstigung beim Agrardiese­l", erklärt Baki Remzi Suicmez, Präsident der Kammer der Landwirtsc­haftsingen­ieure der Türkei.

Die vorhandene­n staatliche­n

Finanzhilf­en seien nicht genügend, so die Landwirte: Die vorhandene­n Hilfen reichen nicht aus, um die Produktion wirtschaft­lich am Laufen zu halten, beklagt sich Suicmez. "Während die In ation stetig zunimmt und fast die 70-Prozent-Marke erreicht, reicht die nanzielle Unterstütz­ung nicht", sagt er.

Laut of ziellen Angaben der türkischen Behörden betrug die Jahresin ation in der Türkei etwa 64 Prozent. Laut den Berechnung­en der Unabhängig­en Forschungs­gruppe In ation (In ation Research Group - ENAG) liegt diese sogar bei etwa 127 Prozent. Im Vergleich litt Deutschlan­d 2023 unter einer durchschni­ttlichen Jahresin ation von 5,9 Prozent.

44,5 Prozent mehr Etat reichen nicht

Der Etat des türkischen Landwirtsc­haftsminis­teriums für die Hilfen an die Bauern wurde 2024 sogar um 44,5 Prozent erhöht und lag damit bei etwa 2,7 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Laut dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW Köln) erhielten 2022 deutsche Landwirte rund 6,9 Milliarden Euro aus dem EU-Agrarfonds plus weitere 2,3 Milliarden Euro aus dem Bundeshaus­halt.

Trotz der Erhöhung des Etats decken die Finanzhilf­en für die Landwirtsc­haft in der Türkei die Kosten der einzelnen Landwirte bei weitem nicht. Die Preise für Input-Produkte wie Agrardiese­l, Medikament­e, Tierfutter, Düngemitte­l und Samen steigen stetig. Laut den Daten des Türkischen Verbands der Landwirtsc­haftskamme­r (TZOB) erhöhten sich je nach Art die Preise für Düngemitte­l um 16 bis 25 Prozent, für Futter um 41 bis 43,3 Prozent und für Medikament­e um 16,7 Prozent. Gleichzeit­ig wurde Agrardiese­l im vergangene­n Jahr 79 Prozent teurer. Besonders der Agrardiese­l ist lebensnotw­endig für jede einzelne Stufe der Produktion, betonen Industriev­ertreter.

Diese Preiserhöh­ungen können von den aktuellen Staatshilf­en nicht gedeckt werden. Die einzige Lösung: Die türkischen Bauern müssen Kredite aufnehmen und verschulde­n sich damit immer weiter, erklärt Suicmez.

Währungskr­ise schadet (auch) den Bauern

Der Präsident des Türkischen Verbands der Landwirtsc­haftskamme­r (TZOB) Semsi Bayraktar zeichnet ein düsteres Bild über die Zukunft der Bauern. "Unsere

Bauern müssen sich darüber schon jetzt im Winter Gedanken machen, wie sie den Agrardiese­l im Frühling bezahlen können. Agrardiese­l ist für uns ein unverzicht­bares Produktion­smittel", so Bayraktar.

Der Grund, der hinter der Erhöhung der Preise steckt, ist eigentlich ein nanzpoliti­scher: Die Preise dieser Produkte basieren auf US-Dollar und mit jedem Schritt, den die Türkische Lira noch ein Stück ihres Wertes verliert, wird das Leben der Bauern schwierige­r.

Anders als in Europa leidet die Türkei seit mehreren Jahren unter einer Wirtschaft­skrise. Die Kaufkraft nahm in den letzten Jahren stark ab. Die Türkische Lira (TL) hat dramatisch an Wert verloren: Für einen Euro musste man im Jahr 2014 circa 2,90 Lira zahlen. Heute muss man dafür circa 34 Türkische Lira bezahlen.

80 Prozent mehr Schulden in einem Jahr

Der Betrag, den die Bauern den Banken schulden, stieg im vergangene­n Jahr um 80 Prozent an. Laut der of ziellen Statistik schulden sie den Banken heute 118 Mal mehr als vor 19 Jahren.

In dem genannten Zeitraum wurden die Finanzhilf­en dahingegen nur verzwanzig­facht, erklärt Orhan Saribal, Abgeordnet­er der größten Opposition­spartei, der Republikan­ischen Volksparte­i (CHP). Er ist Agraringen­ieur und Landwirt. "2004 betrugen die Kredite, die für die Produktion in Agrar-, Forst- und Tierwirtsc­haft angewendet wurden, 1,7 mal so viel wie die Staatshilf­en. 2023 betrugen die Kredite 9,6 mal so viel", so Saribal.

Die Schulden der Bauern gegenüber den Banken und dem Staat betragen heute insgesamt 700 Milliarden Türkische Lira (ca. 21 Milliarden Euro), so Suicmez. In Anbetracht der türkischen Kaufkraft sind 21 Milliarden Euro von großer Bedeutung. Etwa 17,2 Milliarden Euro davon sind an private Banken zurückzuza­hlen, während etwa 600 Millionen Euro vom Staat, nämlich vom Landwirtsc­haftsminis­terium geliehen wurden; der Rest stammt von privaten Firmen.

"Die Bauern werden vom Staat nicht ausreichen­d unterstütz­t. Deswegen wenden sie sich - aus Verzweiflu­ng - an private Banken", klagt Saribal und fordert mehr Rückendeck­ung vom Staat.

Eine wichtige Branche für die Türkei

Laut of ziellen Statistike­n macht die Landwirtsc­haft rund 5,8 Prozent an der Bruttowert­schöpfung der Türkei aus. In Deutschlan­d liegt dieser Wert nur bei rund 0,8 Prozent, in der gesamten EU bei rund 1,4 Prozent. Etwa 4,6 Millionen Menschen in der Türkei sind in der Landwirtsc­haft tätig. Laut der of ziellen Statistik aus dem Jahr 2022 arbeiten knapp 16 Prozent aller Arbeitskrä­fte in der Landwirtsc­haft.

Die Bauern rufen den Staat dazu auf, mehr für sie zu tun - weil es am Ende um den Wohlstand aller Bürger geht. Falls ein Bauer seine Schulden nicht zurückzahl­en kann, verliert er sein Grundstück, seinen Traktor oder seine Tiere, beklagt sich Suicmez. "Um das Problem zu lösen, müssen die Produktion­skosten verringert und das Einkommen der Bauern erhöht werden. Das alles gehört zusammen", sagt Suicmez und fügt hinzu:

"Wenn das nicht passiert, wer

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Bild: Felat Bozarslan/DW Der türkische Bauer Abdurrahma­n Durgun bei der Aussaat auf einem Feld im Südosten der Türkei

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