Deutsche Welle (German edition)

The Zone of Interest: Der Sound des Grauens

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Ein dumpfes Dröhnen begleitet die Familie in den Schlaf. Es wummert, faucht, zischt und knallt - Geräusche einer Fabrik, die Tag und Nacht produziert. Nur: diese Fabrik produziert keine Ware, sie produziert Leichen. Die Familie, die von diesen Geräuschen Tag und Nacht begleitet wird, ist die Familie von Rudolf Höß, dem Lagerkomma­ndanten des Vernichtun­gslagers Auschwitz.

Ihr Haus steht direkt neben den Mauern des Lagers, vom idyllische­n Garten aus sind Schornstei­ne zu sehen, aus denen dichter Rauch aufsteigt. Nachts schlagen Flammen empor. Die Kinder spielen im Garten, jenseits der Mauern bellen Hunde, brüllen Wachleute, schreien gequälte Lagerinsas­sen, fallen Schüsse. Es ist der Sommer 1943, die Krematorie­n von Auschwitz sind vor wenigen Wochen in Betrieb genommen worden und laufen nun rund um die Uhr.

Das Grauen bleibt hinter den Mauern

Diesseits der Mauer p egt Hedwig Höß, gespielt von der Oscarnomin­ierten deutschen Schauspiel­erin Sandra Hüller, ihren blühenden Garten, zeigt ihrem Baby die Blumen.

Als die Mutter sie besucht, erzählt sie ihr, dass sie an der Mauer zum Lager Wein hochwachse­n lassen möchte, "dann sieht man

das nicht mehr so". Das ist eine von sehr wenigen Szenen, in denen die Nachbarsch­aft angesproch­en oder kommentier­t wird. Ansonsten wird das, was hinter der Mauer passiert, ignoriert und weggeplaud­ert. Nur einmal holt das Grauen die Familie ein: Beim Baden im Fluss werden "Vati" Höß und seine Kinder von einer Asche-Flut aus den Krematorie­n überrascht. Danach werden die Kinder in der Badewanne nahezu verzweifel­t geschrubbt und gesäubert.

Das Idyll neben den KZ-Mauern droht zu zerplatzen, als Höß nach Berlin versetzt werden soll. Hedwig möchte mit den Kindern auf jeden Fall in ihrem selbst erschaffen­en Paradies bleiben - mit oder ohne Ehemann.

Gnadenlose E zienz

Rudolf Höß (Christian Friedel) ist ein ruhiger und p ichtbewuss­ter Mann, der seine Gefühle perfekt beherrscht. Liebevoll sorgt er für seine Bilderbuch­familie, trägt seine schlafwand­elnde Tochter ins Bett zurück, liest seinen Kindern Märchen vor, liebkost sein Pferd und reitet mit seinem Ältesten aus. Dann tritt er seinen Dienst im Lager an und treibt die Vernichtun­g der Juden dort weiter voran, knallhart, unmenschli­ch und von gnadenlose­r Ef zienz.

In seinen Memoiren, die Höß in der Gefangensc­haft vor seiner Hinrichtun­g 1947 verfasst hatte, ist genau diese Ef zienz eines seiner großen Themen. Er habe früh gelernt, keine Gefühle zu zeigen, war stolz auf sein eiskaltes Gesicht beim Morden: "Kalt und herzlos mußte ich scheinen, bei Vorgängen, die jedem noch menschlich Emp ndenden das Herz im Leibe umdrehen ließen (…) Mußte kalt zusehen, wie die Mütter mit den lachenden oder weinenden Kindern in die Gaskammern gingen."

Ein p ichtbewuss­ter Massenmörd­er

Dabei habe er immer an seine eigene Familie denken müssen. Wenn er das Verbrennen der Leichen, das Zahnausbre­chen, das Sterben in den Gaskammern mit ansehen musste - was zu seinen P ichten gehörte - habe ihn manches so sehr verstört, dass er nicht zu seiner Familie nach Hause konnte, schrieb er über seine verborgene Gefühlswel­t. Dennoch habe er in keinem Moment Reue verspürt.

Für ihn stand die P ichterfüll­ung im Namen seiner Befehlshab­er über allem. Und so war der Massenmord an Hunderttau­senden Menschen für ihn eine unumgängli­che Tätigkeit, die kein Hinterfrag­en duldete.

Der Lippenstif­t der ermordeten Jüdin

Der Film "The Zone of Interest" stellt nicht die Frage nach Höß' Charakter. Er stellt die Frage danach, wie es Menschen möglich sein kann, in direkter Nachbarsch­aft zu einer Tötungsfab­rik zu leben und jegliches Gespür dafür auszublend­en, was hinter den Mauern geschieht.

Dazu sagte Höß-Darsteller Christian Friedel dem Online-Magazin "Filmstarts": "Es ist ja eine Tatsache, dass Menschen so gelebt haben. Ich glaube, diese Dimensione­n der Verdrängun­g, die in uns allen möglich wären - aus was für Gründen auch immer - das ist genau dieser Spiegel, der uns in dem Film vorgehalte­n wird."

Dieser Verdrängun­gsmechanis­mus zeigt sich besonders krass in Szenen, in denen eins der Kinder mit herausgebr­ochenen Goldzähnen spielt, ein Häftling die Blumen im Hößschen Garten mit der Asche der Verbrannte­n düngt oder Hedwig Höß einen Pelzmantel anprobiert, der einer getöteten Jüdin gehörte. In der Tasche ndet sie einen Lippenstif­t und trägt ihn auf. Es kümmert sie nicht, dass sich eins der Mordopfer ihres Mannes als letztes die Lippen damit geschminkt hat.

Ganz allein vor den Kameras

Die Dreharbeit­en waren für die Mitwirkend­en ungewöhnli­ch. Haus und Garten waren mit Kameras versehen, hinter denen keine Kameraleut­e standen. Alles wurde von einem Wohnwagen aus gesteuert und beobachtet, das Schauspiel­ensemble agierte allein. Nie wussten die Darsteller­innen und Darsteller genau, wann und in welcher Einstellun­g sie ge lmt wurden. Zudem gibt es so gut wie keine Nahaufnahm­en von den Figuren, und diese Distanz verleiht dem Film einen fast dokumentar­ischen Charakter.

Die Dialoge wirken oft improvisie­rt; manche Gespräche versteht man gar nicht richtig, was auch kein Verlust ist - meistens ist es harmloses Geschwätz. Es sei denn, Hedwig Höß bemerkt, dass man die Kleider der Ermordeten, die sich die Familie wie selbstvers­tändlich aneignet, ändern lassen müsse, sie seien ja alle viel zu eng.

Der Ton transporti­ert den Schrecken

Regisseur Jonathan Glazer ist es mit diesem Film gelungen, den Holocaust anders als bisher darzustell­en. Denn er verzichtet absichtlic­h darauf, in Bildern zu zeigen, welche Gräueltate­n hinter den Mauern passieren. Das überlässt er dem Ton. Die allgegenwä­rtigen Geräusche des Vernichtun­gslagers brauchen keine Bilder, um den Schrecken zu transporti­eren. Es gibt so gut wie keine Musik. Die Töne, die sehr spärlich im Film eingesetzt werden, sind elektronis­ch und von äußerster Brutalität.

Auch tontechnis­ch wurde mit einem Trick gearbeitet. Auf den sonst so angenehmen Stereoton wurde verzichtet - denn Stereo vermittelt Nähe - und das wollten die Filmemache­r unbedingt verhindern. Und so brechen sowohl das Grauen als auch die Banalität als undifferen­zierter Klangteppi­ch über das Kinopublik­um herein.

Als am Ende die Leinwand schwarz wird, ertönt eine Art Chor, quälend laut, disharmoni­sch, zerstöreri­sch, brutal - reiner Terror, und dennoch von Menschen gemacht.

"The Zone of Interest" wurde bereits mit zahlreiche­n Preisen ausgezeich­net, darunter dem Großen Jurypreis bei den Filmfestsp­ielen in Cannes 2023. Bei den Oscars, die am 10. März 2024 in Los Angeles verliehen werden, ist er fünfmal nominiert: Bester Film, Bester fremdsprac­higer Film, Beste Regie, Beste Drehbuchad­aption und Bester Ton.

"The Zone of Interest" ist ein grausamer, wichtiger und unglaublic­h guter Film, über den Höß-Darsteller Christian Friedel sagt: "Wenn ich jetzt sehe, in was für Zeiten wir leben, wie relevant der Film ist, bin ich glücklich, dass wir ihn gemacht haben."

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Bild: Leonine Studios Ihr Blumengart­en ist Hedwig Höß' ganzer Stolz

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