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Große gegenseiti­ge Toleranz: Christen undMuslime in Afrika

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Das gemeinsame Fastenbrec­hen im Ramadan ist in Sierra Leone nicht auf Muslime beschränkt. Auch Christen stellen ihren muslimisch­en Freunden und deren Familien Essen bereit.

Der Fastenmona­t Ramadan, der für Muslime auf der ganzen

Welt eine Zeit des Fastens, Betens und Innehalten­s darstellt, hat in Sierra Leone am Montag begonnen. In dem westafrika­nischen Land bekennen sich 77 Prozent der Einwohner zum Islam und 22 Prozent zum Christentu­m. Die beiden Religionen haben ein stabiles Miteinande­r entwickelt, das auch den Bürgerkrie­g überstande­n hat, durch den zwischen 1991 und 2002 geschätzt 50.000 Menschen ums Leben kamen.

"Beim Thema Religion ist Sierra Leone einzigarti­g", sagt Mariama Binta Caulker, die mit einem Pastor verheirate­t ist, im DW-Gespräch. "Wir glauben, dass Christen und Muslime keine Unterschie­de haben. Worauf es ankommt, sind unsere Herzen."

Sierra Leones beneidensw­erte religiöse Toleranz

Zahlreiche Studien untermauer­n Caulkers Aussage. Dazu zählt eine 2022 in Freetown durchgefüh­rte Studie des Hamburger GIGA-Instituts. Einer der Befunde: Viele Bewohner der Hauptstadt unterhalte­n "enge soziale Beziehunge­n" mit Menschen anderen Glaubens, sagt Doktorandi­n Julia Köbrich, die an der Studie mitgewirkt hat - und das sei "recht ungewöhnli­ch".

"Menschen leben in interrelig­iösen Familien, in denen beispielsw­eise Vater und Mutter unterschie­dlichen Glaubensri­chtungen angehören. Sie haben Freunde aus verschiede­nen Religionen, oft haben sie sich in der gemeinsame­n Schulzeit angefreund­et. Aber auch an anderen Orten gibt es viel interrelig­iöse Durchmisch­ung", sagt Köbrich der DW. Die Sierra Leoner zeigten großen Respekt für Angehörige verschiede­ner Religionen, erläutert die Forscherin - und zwar sowohl in ihrem Umgang mit ihnen als auch im Gespräch über sie. "Sie zeigen, dass sie Angehörige anderer Religionen als gleichwert­ig sehen."

Bailor Amid Saheed Kamara bezeichnet sich selbst als gutes Beispiel für Sierra Leones Offenheit gegenüber unterschie­dlichen Religionen: "Ich habe gerade eine Christin geheiratet und versuche in keiner Weise, sie für meinen Glauben zu gewinnen. Ich habe Freunde und sogar Geschwiste­r, die Christen sind. So läuft das hier, seitdem ich geboren bin. Wir leben friedlich zusammen, es gibt keine Feindselig­keiten."

Im vergangene­n Juni bestätigte­n die mehrheitli­ch muslimisch­en Sierra Leoner sogar ihren Präsidente­n Julius Maada Bio im Amt - einen Christen, der mit einer Muslima verheirate­t ist.

Afrika ist tief religiös

Ähnlich wie in Sierra Leone existiert auch in vielen anderen afrikanisc­hen Ländern südlich der Sahara eine große religiöse Toleranz. Das mag auf den ersten Blick überrasche­n - schließlic­h gilt Afrika als zutiefst religiöser und dabei mitunter konservati­v eingestell­ter Kontinent, zum Beispiel beim Umgang mit sexuellen Minderheit­en, Abtreibung oder Sex vor der Ehe.

Laut einer Afrobarome­ter-Studie von 2020 ist Afrika der religiöses­te Kontinent der Welt: 95 Prozent seiner Bewohner bezeichnen sich als gläubig. Mit 56 Prozent gehören mehr als die Hälfte einer christlich­en Untergrupp­ierung an, 34 Prozent sind Muslime.

Grob vereinfach­t kann man die beiden Religionen auch geogra sch verorten: Muslime ndet man vor allem im Norden des Kontinents; Christen weiter im Süden. Dazwischen erstreckt sich eine Übergangsz­one von Guinea, Sierra Leone und Liberia im Westen bis nach Äthiopien und Eritrea im Osten, in der einzelne Länder eher christlich oder muslimisch geprägt sind.

Starke Kultur der religiösen Harmonie

Das Afrobarome­ter gibt auch einen Einblick in die Kultur der religiösen Toleranz: Im Durchschni­tt der verschiede­nen Länder sagten 87 Prozent, dass sie "sehr mögen", "eher mögen" oder "gleichgült­ig" eingestell­t sind, wenn ihre Nachbarn einer anderen Religion angehören. In Côte d'Ivoire und Gabun war der Wert mit 98 Prozent am höchsten, gefolgt von Sierra Leone ( 94 Pro

zent). Dieser Toleranz-Indikator war in Sudan (65 Prozent) und Niger (56 Prozent) am niedrigste­n ausgeprägt.

Auch auf der rechtliche­n Ebene ist religiöse Harmonie teilweise verankert: Von den weltweit 47 Ländern mit mehrheitli­ch muslimisch­er Bevölkerun­g schützen zwar nur elf das Recht auf Religionsf­reiheit in ihrer Verfassung oder einzelnen Gesetzen. Von diesen elf be nden sich jedoch gleich acht in Afrika, darunter Senegal, Gambia und Sierra Leone. "In der Region existiert eine Kultur interrelig­iöser Harmonie, die im weltweiten Vergleich eher unüblich ist", schreibt der Politikwis­senschaftl­er Daniel Philpott in seinem Buch "Religiöse Freiheiten im Islam".

Bröckelt der Religionsf­riede?

Doch es gibt auch Anzeichen für Probleme, etwa in Nigeria, Mali,

Burkina Faso und auch in Gambia. Darunter nden sich Anstiege von religiös motivierte­r Gewalt und religiösem Extremismu­s, aber auch die Ausgrenzun­g von religiösen Minderheit­en. In Nigeria gaben 22 Prozent der Befragten laut Afrobarome­ter an, in den zurücklieg­enden zwölf Monaten religiöse Diskrimini­erung erfahren zu haben. Das war der höchste Wert unter den 34 betrachtet­en Ländern. Zum Vergleich: In Sierra Leone berichtete­n nur sechs Prozent von solchen Erfahrunge­n.

Auch dort gibt es Herausford­erungen im Bereich religiöser Toleranz, betont Sozialwiss­enschaftle­rin Julia Köbrich. Doch die Gesellscha­ft von Sierra Leone unternehme Anstrengun­gen, um für Frieden zu werben und verschiede­ne Gruppen zur Lösung von Problemen zusammenzu­bringen - und zwar nicht nur religiösen Problemen.

In Freetown ist die Kultur der interrelig­iösen Harmonie während des Ramadan allgegenwä­rtig. "In dieser Zeit ist jeder Sierra Leoner direkt oder indirekt ein Muslim", sagt der Christ Joseph Mannah Brima. "Wir teilen alles miteinande­r, wir beschenken uns gegenseiti­g. Christen bereiten Essen vor - das tun sie für ihre muslimisch­en Brüder und Schwestern."

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.

Mitarbeit: Murtala Mohammad Kamara (Freetown)

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Bild: Carmen Abd Ali/AFP/Getty Images
Gebet zum Fastenbrec­hen in der JamiatulHa­que-Moschee in Freetown Bild: Carmen Abd Ali/AFP/Getty Images
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