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Viktor Kossakowsk­i: "Wirmüssenm­it demTöten aufhören"

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Viktor Kossakowsk­i ist ein russischer Dokumentar lmer, der sein Handwerk in Leningrad (heute St. Petersburg) erlernte. Er erhielt zahlreiche internatio­nale Preise. Im Jahr 2002 hat er seine Heimat verlassen und lebt u.a. in Berlin. Bei der diesjährig­en Berlinale lief sein Film "Architecto­n" im Hauptwettb­ewerb. Es ist eine bildgewalt­ige Reise ins Reich des Materials, aus dem menschlich­e Behausunge­n bestehen: Beton und dessen Vorgänger, Stein. Das Filmessay widmet sich der fundamenta­len Frage, wie wir die Welt von morgen bewohnen wollen und rückt auch das Konzept wenig nachhaltig­en modernen Bauens in den Fokus.

Die DW sprach mit Viktor Kossakowsk­i über moderne Architektu­r und die Notwendigk­eit, im Einklang mit der Natur zu leben, aber auch über den Tod von Alexej Nawalny, über Krieg und über individuel­le Verantwort­ung.

DW: Einen Tag nach Beginn der Berlinale, am 16. Februar, haben wir vom Tod Alexej Nawalnys erfahren. Wie hat diese Nachricht auf Sie

gewirkt?

Viktor Kossakowsk­i: Im Kino gibt es eine Zeitlupen-Filmtechni­k. Stellen Sie sich vor, eine Kugel wird abgefeuert, sie erreicht den Kopf eines Menschen - und er wird getötet. Die lmische Zeitlupe dehnt diesen Moment auf drei Jahre aus. Nawalny wurde schon vor drei Jahren getötet - in dem Moment, als er verhaftet wurde. Wir wussten, dass er umgebracht werden wird. Die Frage war nur, wann das geschieht. Es ist alles unsere Schuld: Drei Jahre lang haben wir so getan, als würde sich alles irgendwie schon regeln. Und jetzt versuchen wir, unsere Untätigkei­t zu rechtferti­gen.

Ich habe Mitleid mit Julia Nawalnaja. Ich habe Mitleid mit Nawalnys Mutter. Mit seinen Kindern. Ich habe Mitleid mit den ukrainisch­en Kindern, die zwangsweis­e deportiert werden, die ihren Familien entrissen werden, die vielleicht einen anderen Namen bekommen... Ich denke die ganze Zeit an sie! Was für eine Katastroph­e! Und die Welt kann nichts dagegen tun. Irgendetwa­s stimmt nicht, wenn die ganze Welt im 21. Jahrhunder­t nicht in

der Lage ist, einen

Europa zu stoppen!

Ihr neuer Film "Architecto­n" beginnt mit einem Prolog, in dem Sie Häuser in der Ukraine zeigen, die von russischen Raketen zerstört wurden. Dieses Filmmateri­al hat nicht direkt etwas mit der Idee des Films zu tun. Warum war es für Sie wichtig, den Film mit diesen Aufnahmen zu beginnen?

Ich habe diesen Film anfangs als Komödie über moderne Architektu­r konzipiert. Aber als die Corona-Pandemie ausbrach, wurde mir klar, dass ich ernst sein muss. Ich drehte ein völlig leeres New York: kein einziger Mensch, kein einziges Auto, keine einzige Werbung. Ein völlig apokalypti­sches Bild einer unvorstell­baren Zukunft. Und dann begann dieser Krieg - und mir wurde klar, dass ich weder die Comedy-Episode noch das Filmmateri­al aus New York verwenden konnte.

Die Ruinen beweisen mehr als schriftlic­he Dokumente: Denn Russland könnte sagen, es sei nicht für Zerstörung verantwort­lich. Hier war mal ein gewöhnlich­es Viertel, gewöhnlich­e Wohnhäuser, in denen die Menschen

Krieg mitten in

schliefen. Jetzt belegen diese kaputten Häuser ganz klar, von welcher Seite die Raketen kamen. Daher habe ich angefangen, Ruinen zu lmen.

Es gab eine Bewegung in der Kunst - den "Ruinismus", auch Piranesi ( Giovanni Batista Piranesi, italienisc­her Archäologe, Architekt und Kunstgra ker des XVIII. Jahrhunder­ts, der die Ruinen antiker Zivilisati­onen malte, Anmerkung d. Red.) gehörte dazu. Als er seine Gemälde präsentier­te, glaubte man, dass er sich diese Motive nur ausgedacht habe. Ich wollte wissen, ob das stimmt - und es stellte sich heraus, dass er nicht nur nichts erfunden hatte, sondern seine Bilder sogar fotogra sch genau waren.

Wenn man sich seine Werke ansieht, versteht man, dass wir nicht die Einzigen auf der Welt sind, dass es eine frühere Zivilisati­on gab. Und die Art und Weise, wie sie damals gebaut haben, das können wir nicht wiederhole­n. Wir sind nicht in der Lage, die Steine so zu bearbeiten, wie die Menschen damals es getan haben. Wir können nicht nur den Stein nicht anheben, wir können ihn auch nicht vom Felsen trennen.

Die Vorstellun­g, dass Bauten in der Antike von Sklaven errichtet wurde, ist falsch. Sklaven gibt es heute auf vielen Baustellen - in jedem Land, auch in Europa, auch hier in Deutschlan­d. Es sind Menschen ohne Rechte, Menschen, die in den Kellern der Gebäude schlafen, die sie bauen. Das sind die Sklaven. In der Antike waren es Meister ihres Fachs!

Heutzutage errichten wir keine schönen Steinbaute­n mehr, weil wir sie für zu teuer halten. Aber in Wirklichke­it sind die Bauten teuer, die wir jetzt errichten, denn unsere Kinder werden sie wieder abreißen (weil sie weder lange haltbar noch nachhaltig sind, Anm. d. Red.). Wenn wir schöne Gebäude errichten würden, würden unsere Kinder sie schützen, und unsere Enkel und Urenkel würden sie auch schützen. Das käme uns billiger.

Wenn die Medien über Sie schreiben, werden Sie manchmal als russischer Regisseur bezeichnet, manchmal als ein in Russland geborener Regisseur. Wie sehen Sie sich selbst?

Als Regisseur wurde ich in in Leningrad (heute St. Petersburg) ausgebilde­t, wo ich studiert habe. Ich habe mit Kameramänn­ern gearbeitet, deren Namen in die Filmgeschi­chte eingegange­n sind. Den Respekt vor dem Bild und das Verständni­s, dass Dokumentar lm eine Kunst ist, habe ich mir dort angeeignet. Und natürlich bin ich mit russischen Büchern aufgewachs­en. Ich vermisse immer noch unseren tiefen Himmel, die lange Dämmerunge­n...Ich bin ein Russe.

Aber wenn Sie Russe und Teil der russischen Kultur sind, bedeutet das, dass Sie bereit sind, die kollektive Verantwort­ung für Russlands Handlungen zu übernehmen?

Nein, ich bin nicht dazu bereit. Aber ich denke, dass auch ich Schuld trage, weil ich nicht genug getan habe. Meine Filme waren nicht überzeugen­d genug. Wenn andere Kulturscha­ffende die Weltanscha­uung der russischen Bürger geprägt haben, dann hatte ich wohl nicht genug Talent dazu.

Es gibt eine traurige Sache in der Natur: Es überlebt derjenige, der sich anpasst. Offensicht­lich ist der Kompromiss Teil des Überlebens­systems. Ich kann nicht über diejenigen urteilen, die es geschafft haben, sich anzupassen. Dazu habe ich kein Recht. Ich will es nur nicht selbst tun, deshalb bin ich ausgewande­rt. Aber jeder geht seinen eigenen Weg.

In Ihren letzten drei Filmen - in "Aquarell", "Gunda" und "Architekto­n" - sind praktisch keine Menschen im Bild. Aber nach diesen Filmen kann man gewisse Schlüsse über die Menschheit ziehen - und die sind ziemlich enttäusche­nd.

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Bild: Berlinale/Victor Kossakovsk­y Victor Kossakowsk­is Dokumentar lm "Architecto­n" läuft im Hauptwettb­ewerb der 74. Berlinale

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