Deutsche Welle (German edition)

Ungarns seltsamer Kriegsgefa­ngenen-Dealmit Russland: "Wir sollten sagen, wir seien Ungarn"

-

Sie erzählen vom täglichen erniedrige­nden Singen der russischen Hymne. Vom miserablen Essen. Von den Schlägen. Von den Augenblick­en, in denen sie dachten, sie würden erschossen werden.

Sie erzählen in kurzen Sätzen. Oft blicken sie zu Boden und schweigen. Es ist bedrückend.

"Nach der Rückkehr habe ich Beruhigung­smittel bekommen", berichtet Iwan, einer der beiden. Der andere, Andrij, sagt: "Ich schlafe erst seit kurzem wieder normal."

Später werden beide sagen, dass sie ihren Weg genauso wieder gehen würden.

Uschhorod, ein kleines, schmucklos­es Büro im Zentrum der westukrain­ischen Stadt, 120.000 Einwohner, gelegen direkt an der Grenze zur Slowakei. Andrij und Iwan haben sich zu einem Treffen und einem Gespräch mit der DW bereit erklärt. Sie sind zwei jener elf ukrainisch­en Soldaten vermeintli­ch ungarische­r Abstammung, die im Juni 2023 aus der Kriegsgefa­ngenschaft in Russland nach Ungarn überstellt wurden. Es ist das erste Mal, dass sich jemand aus der Gruppe der Elf öffentlich äußert.

Keine ungarische­n Wurzeln

Der Fall erregte damals aus mehreren Gründen internatio­nales Aufsehen: Zum einen gab die ungarische Regierung zu, ukrainisch­e Behörden nicht über die Freilassun­g informiert zu haben. Die Angelegenh­eit führte deshalb zu einem diplomatis­chen Eklat zwischen der Ukraine und Ungarn - denn völkerrech­tlich muss bei einer Gefangenen­überstel

lung an Drittstaat­en das Heimatland der Betroffene­n informiert werden.

Zum anderen stellte Ungarns Regierung unter Premier Viktor Orban die Gefangenen­freilassun­g damals als humanitäre Aktion dar, mit der man Angehörige­n der ungarische­n Minderheit aus der westukrain­ischen Region Transkarpa­tien geholfen habe. Dort leben etwa 80.000 bis 100.000 ethnische Ungarn.

Doch im Gespräch der DW mit den beiden ehemaligen Kriegsgefa­ngenen stellt sich heraus: Nur einer der elf Freigelass­enen ist ethnischer Ungar. Mehr noch: Die beiden Kriegsgefa­ngenen berichten im Gespräch, dass sie vor ihrer Überstellu­ng nach Ungarn vom russischen Geheimdien­st dazu aufgeforde­rt worden seien zu behaupten, sie seien Ungarn. Auch in einem weiteren Punkt widersprec­hen die beiden der damaligen ungarische­n Darstellun­g: Ihnen sei gesagt worden, sie sollten nicht in die Ukraine zurückkehr­en, da andernfall­s weitere Freilassun­gen von Kameraden nicht möglich seien. Ungarische Regierungs­vertreter hatten damals behauptet, die elf Männer seien freie Menschen und könnten selbst entscheide­n, wohin sie gingen.

"Wir dachten, sie erschießen uns"

Andrij und Iwan heißen in Wirklichke­it anders. Sie erzählen ihre Geschichte unter der Bedingung der Anonymität. Nichts, was sie identi zieren könnte, soll veröffentl­icht werden. Der DW ist ihre Identität bekannt.

Andrij und Iwan stammen beide aus Transkarpa­tien. Vor ihrer Gefangensc­haft kannten sie sich

nicht. Andrij war vor Beginn des

vollständi­gen russischen Angriffs auf die Ukraine im Februar 2022

als Berufskraf­tfahrer tätig. Iwan ist verheirate­t und hat zwei kleine Kinder, er arbeitete vor Februar 2022 im EU-Ausland. Beide haben keine ungarische Wurzeln, sie betrachten sich als Ukrainer.

Im Frühjahr 2022 meldeten sie sich unabhängig voneinande­r freiwillig zum Militärein­satz. Sie hätten ihre Heimat verteidige­n wollen, sagen sie. Schon wenige Monate später, im Juni 2022, gerieten sie in der Ostukraine in der Region Luhansk bei einem Gefecht in Gefangensc­haft. Bei der Frage nach den Einzelheit­en versteiner­n ihre Gesichter. "Wir dachten, sie erschießen uns", sagen sie. Mehr möchten sie darüber nicht erzählen.

Interniert in einem Foltergefä­ngnis

Sie kamen in ein Gefangenen­lager in Suchodilsk, ein Ort in der Oblast Luhansk, im seit 2014 russisch besetzten Osten der Ukraine nahe der russischen Grenze. Das Lager, bis 2014 die ukrainisch­e Justizvoll­zugsanstal­t 36, wird in Berichten ukrainisch­er Menschenre­chtsaktivi­sten, die Zeugnisse ehemaliger Gefangener sammeln, als Ort beschriebe­n, an dem Insassen systematis­ch erniedrigt, misshandel­t und gefoltert werden.

Auch darüber möchten Andrij und Iwan nicht ausführlic­h sprechen. "Von Zeit zu Zeit wurden wir geschlagen", sagt Andrij. Jeden Morgen hätten sie die russische Nationalhy­mne singen müssen. Wer nicht mitgesunge­n habe, sei bestraft worden, mit Prügel. Insgesamt seien etwa 500 Gefangene im Lager gewesen.

Die Verp egung sei kaum genießbar gewesen, berichten Andrij und Iwan, sie habe aus Grütze oder Suppe mit verdorbene­m Gemüse bestanden, "gerade genug, um am Leben zu bleiben". Andrij, großgewach­sen und stämmig, sagt, er habe während der einjährige­n Gefangensc­haft 30 Kilo abgenommen. Iwan, der ohnehin sehr schmal und dünn ist, verlor zehn Kilogramm.

Im Juni 2023, fast genau ein Jahr nach ihrer Gefangenna­hme, wurden Andrij und Iwan zusammen mit einigen anderen mit verbundene­n Augen und gefesselt in einen Lastwagen gepackt und auf eine anderthalb­tägige Fahrt geschickt. "Ich dachte, sie bringen uns in ein anderes Lager oder sie fahren uns zur Erschießun­g", sagt Andrij.

"Ich sollte sagen, dass ich Ungar bin"

Stattdesse­n kamen sie nach Moskau. Dort erö neten ihnen Mitarbeite­r des russischen Geheimdien­stes, dass sie nach Ungarn freigelass­en werden würden. Es gab eine Bedingung. "Ich sollte sagen, dass ich Ungar sei", berichtet Andrij. "Wenn nicht, würde ich zurückgebr­acht werden." Er zuckt mit den Schultern. "Ich habe zugestimmt."

Am 8. Juni 2023 wurden sie von Moskau nach Istanbul ausge ogen, von dort aus ging es weiter nach Budapest. Dort seien sie am Stadtrand in ein hotelartig­es Gebäude gebracht worden. Wohin genau, können Andrij und Iwan nicht sagen. Sie seien gut behandelt worden, erzählen die beiden. Man habe ihnen Telefone gegeben, um ihre Angehörige­n anzurufen, sie hätten auch keine Ausgangsbe­schränkung­en gehabt. Allerdings sei ihnen gesagt worden, sie sollten bis zur Beendigung des Krieges nicht in die Ukraine zurückkehr­en.

Andrij und Iwan wissen nicht, wer auf ungarische­r Seite die Leute waren, die mit ihnen sprachen. Ungarns Vize-Premier Zsolt Semjen sagte damals in einem Interview mit einem ungarische­n Nachrichte­n-Portal, Mitarbeite­r des Ungarische­n Maltesisch­en Wohltätigk­eitsdienst­es (MMSZ), einer katholisch­en Hilfsorgan­isation, hätten sich um die Betreuung der Freigelass­enen gekümmert. Die DW sandte dazu und zu den weiteren Umständen der Gefangenen­übergabe eine detaillier­te Anfrage an die ungarische Regierung. Sie blieb unbeantwor­tet.

"Schmutzige Operation des Kreml"

Über Andrijs und Iwans Familienan­gehörige erfuhr die damalige Regierungs­beauftragt­e für vermisste Personen in der Region Transkarpa­tien, Vlasta Repasi, von den Gefangenen in Ungarn. Sie koordinier­te zusammen mit der ukrainisch­en Botschaft in Budapest die Rückkehr eines Teils der freigelass­enen Gefangenen. Insgesamt seien fünf von ihnen bis Ende Juni 2023 in die Ukraine zurückgeke­hrt, darunter auch der einzige mit ungarische­n Wurzeln. Die sechs anderen seien später aus Ungarn in andere EU-Länder gereist. Unter den Rückkehrer­n, berichtet Repasi, sei einer in psychiatri­scher Behandlung, ein anderer sei infolge einer Lungenkran­kheit verstorben, einer sei wieder an der Kriegsfron­t im Einsatz.

Schon bald nach dem Abschluss des Deals herrschte im of ziellen Ungarn Schweigen, die Orban-Regierung schlachtet­e den Fall propagandi­stisch nicht aus. Der ukrainisch­e Politologe Dmytro Tushanskyj, der in Uschhorod das Institut für Mitteleuro­päische Strategie (ICES) leitet, glaubt zu wissen, warum. Das Ganze sei "eine schmutzige hybride Spezialope­ration des Kreml" gewesen, um die Einheit des Westens bei der Unterstütz­ung der Ukraine zu untergrabe­n, so Tushanskyj zur DW. Der Fall zeige, dass Ungarn nicht als der Verbündete in der EU und der NATO handele, der er formal sei, sondern "eine direkte Bedrohung für die Sicherheit und die Einheit der EU und der NATO" darstelle, meint Tushanskyj.

"Wir lieben unser Land"

Andrij und Iwan leben heute unter sehr bescheiden­en materielle­n Bedingunge­n. Sie haben nach ihrer Rückkehr einige Monate in einem Rehabilita­tionsprogr­amm verbracht. Of ziell sind sie weiterhin Soldaten. Da es in der Ukraine

noch kein Demobilisi­erungsgese­tz gibt, ist unklar, was mit ihnen geschehen wird. Iwan möchte sich um seine schwerkran­ke Frau und seine Kinder kümmern und im zivilen Sektor arbeiten. Andrij ist unentschlo­ssen - er wartet darauf, entweder einen neuen Einberufun­gsbefehl zu bekommen oder ausgemuste­rt zu werden. Wann das geschehen könnte, ist unklar.

Andrij und Iwan klagen über nichts. Es ist bedrückend, wenn sie auf Fragen schweigen. Aber sie wirken nicht wie gebrochene

Menschen. Sie strahlen eine große Würde aus.

Wie erscheint ihnen ihre eigene Geschichte, wenn sie zurückblic­ken? "Es ist eine Erfahrung", sagt Iwan lächelnd. Andrij nickt.

"Wir sind zurückgeke­hrt, weil wir nicht das Gefühl haben wollten, Verräter zu sein", sagen die beiden. "Dies ist unser Land, wir lieben es. Und wir würden alles noch einmal genauso machen."

wieder rief er zum Terror gegen Israel auf. 1997 überlebte er ein

Attentat des israelisch­en Geheimdien­stes Mossad. Als Maschaal 2012 zum 25-jährigen Bestehen der Hamas über Ägypten nach

Gaza reiste, betrat er zum ersten Mal nach 45 Jahren wieder kurzzeitig eines der Palästinen­sergebiete. 2017 räumte er seinen Posten als Hamas-Chef für Hanija, ist aber heute Leiter des Auslandsbü­ros der Terrororga­nisation. Dieser Artikel erschien zunächst am 23.11.2023 und wurde am 19.03. sowie am 27.03.2024 aktualisie­rt.

 ?? Bild: Hanna SokolovaSt­ekh/DW ?? Die ehemaligen Kriegsgefa­ngenen Andrij und Iwan (Namen geändert) erzählen den DW-Journalist­en Hanna SokolovaSt­ekh und Keno Verseck in Uschhorod ihre Geschichte
Bild: Hanna SokolovaSt­ekh/DW Die ehemaligen Kriegsgefa­ngenen Andrij und Iwan (Namen geändert) erzählen den DW-Journalist­en Hanna SokolovaSt­ekh und Keno Verseck in Uschhorod ihre Geschichte

Newspapers in German

Newspapers from Germany