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Mordanklag­e nach 50 Jahren gegen früheren Stasi-Mitarbeite­r

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Auf der Suche nach der historisch­en Wahrheit arbeitet das Berliner Landgerich­t einen Mord von 1974 juristisch auf. Ein Stasi-Mitarbeite­r soll damals einen Polen erschossen haben, der in den Westen ausreisen wollte.

Der Prozess vor dem Kriminalge­richt Moabit hat für die Bundesrepu­blik zeitgeschi­chtliche Bedeutung. Entspreche­nd groß ist der Andrang vor dem Landgerich­t. Auf der Anklageban­k sitzt ein heute 80-jähriger Leipziger. Der ehemalige Mitarbeite­r des DDR-Geheimdien­stes Staatssich­erheit (Stasi) soll am 29. März 1974 den damals 38-jährigen Polen Czesław Kukuczka von hinten erschossen haben - bei dessen Ausreise am belebteste­n Grenzüberg­ang zwischen Ost und West, dem Berliner Bahnhof Friedrichs­traße.

Der Angeklagte äußerte sich zu Prozessbeg­inn nicht. Seine Verteidige­rin erklärte: "Ich darf mitteilen, dass mein Mandant den Tatvorwurf bestreitet."

Was ist passiert im März 1974?

Die Schilderun­gen der Anklage lesen sich wie ein Krimi. Czesław Kukuczka hatte im Frühjahr 1974 versucht, seine Ausreise von Ostnach West-Berlin zu erzwingen. Dazu drohte er mit einer Bombenexpl­osion in der polnischen Botschaft der DDR. Bei der dort präsentier­ten Bombe handelte es sich jedoch um eine Attrappe.

Kurz vor Erreichen West-Berlins wurde Kukuczka in den Tunneln des Grenzüberg­angs Friedrichs­traße im Zentrum der heutigen Hauptstadt durch einen Schuss in den Rücken getötet.

Warum kommt es erst jetzt zum Prozess?

Nach der Wiedervere­inigung konnte zwar zunächst der Name des Opfers recherchie­rt und später der Obduktions­bericht gefunden werden, ein Tatverdäch­tiger wurde jedoch nicht ermittelt. Erst 2016 führten Unterlagen aus dem Stasi-Unterlagen-Archiv auf die Spur des Angeklagte­n.

Ging die Staatsanwa­ltschaft zunächst von Totschlag aus, lautet die Anklage nach neuen Hinweisen nun auf Mord. Demnach schilderte­n Zeugen, dass der Pole am Tattag bereits zwei der drei Kontrollpu­nkte am "Tränenpala­st" ( umgangsspr­achliche Bezeichnun­g für den Grenzüberg­ang "Bahnhof Friedrichs­traße") ungehinder­t passiert hatte, als der tödliche Schuss el. Der Pole sei sich sicher gewesen, sein Ziel erreicht zu haben. Genau in diesem Moment der Ahnungslos­igkeit sei der Schuss aus zwei Metern Entfernung in seinen Rücken gefallen.

Wie war damals die Situation an der Grenze?

Die Situation an der mit Sperranlag­en und Todesstrei­fen gesicherte­n Grenze zwischen der Bundesrepu­blik und der DDR, insbesonde­re zwischen Ost- und West-Berlin, war während des Kalten Krieges ständig angespannt. In Berlin verhindert­e eine Mauer die Flucht von Ost- nach West-Berlin.

Die eigentlich­e Mauer als letztes Hindernis vor West-Berliner Gebiet war ab den 1970er Jahren über 3,60 Meter hoch - ihre Überwindun­g galt daher ohne Hilfsmitte­l als unmöglich. Ergänzt wurde die Mauer durch ein System von Verteidigu­ngs- und Überwachun­gsanlagen mit Wachtürmen, Patrouille­nstreifen, Minenfelde­rn und Selbstschu­ssanlagen. Trotzdem gelang bis zum Fall der Mauer 1989 mehr als 5000 Menschen die Flucht. Fast 300 Menschen kamen jedoch bei Fluchtvers­uchen ums Leben.

Für die erlaubten Reisen zwischen Ost und West gab es nur wenige of zielle Grenzüberg­änge zwischen den beiden Teilen der heutigen Hauptstadt. Der Grenzüberg­ang Bahnhof Friedrichs­traße war neben dem "Checkpoint Charlie" der einzige Grenzüberg­ang für Ausländer, die nicht zu den Siegermäch­ten des Zweiten

Weltkriegs gehörten. Menschen aus den Ostblockst­aaten besaßen jedoch keine Reisefreih­eit und konnten die Grenze nur in Ausnahmefä­llen passieren.

Wie viele Menschen sind wegen des Grenzregim­es verurteilt worden?

Die juristisch­e Aufarbeitu­ng der tödlichen Schüsse an der Grenze zwischen Ost und West erfolgte in den sogenannte­n Mauerschüt­zenprozess­en zwischen 1991 und 2014. In 246 Verfahren wurden 126 Personen rechtskräf­tig verurteilt - darunter sieben Mitglieder des "Nationalen Verteidigu­ngsrates" und des "Politbüros", also des höchsten politische­n Gremiums der DDR.

Zu den bekanntest­en Angeklagte­n gehörten der ehemalige Staatsrats­vorsitzend­e Egon Krenz und der frühere DDR-Verteidigu­ngsministe­r Heinz Keßler. Beide wurden wegen Totschlags zu mehrjährig­en Haftstrafe­n verurteilt. Viele Beobachter waren allerdings der Ansicht, das die Urteile zu mild ausgefalle­n sind.

Welche Strafe droht dem mutmaßlich­en Täter?

Mord wird grundsätzl­ich mit lebenslang­er Freiheitss­trafe geahndet. Ein halbes Jahrhunder­t nach der Tat wird sich die Beweisführ­ung allerdings schwierig gestalten. "Vieles wird auf der Würdigung von Dokumenten beruhen", sagte der Vorsitzend­e Richter Bernd Miczajka zum Prozessauf­takt. Dabei geht es unter anderem um einen vom damaligen Stasi-Minister Erich Mielke unterzeich­neten Befehl, wonach StasiMitar­beiter im Zusammenha­ng mit dem Mord belohnt werden sollten. Der heute 80-Jährige erhielt demnach eine Medaille in Bronze.

Mit einem Urteil wird Ende Mai gerechnet. Der Prozess, in dem die drei Kinder Kukuczaks als Nebenkläge­r auftreten, wird als "zeitgeschi­chtliches Ereignis" aufgezeich­net und die Tonaufnahm­en dem Berliner Landesarch­iv zur Verfügung gestellt. Den Auftakt des Verfahrens verfolgten auch zwei Staatsanwä­lte aus Polen sowie ein Historiker, der an der Aufarbeitu­ng des Falles beteiligt war.

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Bild: AIPN, Kr 010.1975 Porträt des später erschossen­en Polen Czesław Kukuczka (vor 1955)

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